David Copperfield. Charles Dickens
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Er schien sich darüber sehr zu wundern, – ich sehe ihn noch still stehen und mich ansehen –, und nachdem er einen Augenblick überlegt hatte, sagte er, er wollte eine alte Frau, die nicht weit weg wohnte, aufsuchen, und das beste werde sein, wenn ich unterwegs Brot oder was ich sonst brauchte kaufte und bei ihr, wo wir Milch bekommen könnten, frühstückte.
Wir traten also in einen Bäckerladen, und nachdem ich nacheinander fast alles, was schwer verdaulich war, hatte kaufen wollen, und er mir abgeraten, entschieden wir uns endlich für einen netten kleinen Laib Schwarzbrot, der drei Pence kostete. Dann kauften wir bei einem Höckler ein Ei und eine Schnitte Schinken; und da mir von meinem zweiten Schilling noch recht viel Kleingeld übrig blieb, kam mir London alsein sehr billiger Ort vor.
Mit unsern Einkäufen fertig, gingen wir durch entsetzlichen Lärm und großes Getöse, das meinen Kopf unbeschreiblich verwirrte, über eine Brücke, – ich glaube, er nannte sie Londonbrücke, – und ich war halb eingeschlafen, als wir bei dem Hause der alten Frau anlangten, das zu einem Teil eines Armenasyls gehörte, wie ich aus einer Überschrift auf der Tür entnahm, die besagte, daß es für fünfundzwanzig arme Frauen eingerichtet war. Der Schulmeister von Salemhaus öffnete eine der kleinen schwarzen Türen, die alle ganz gleich aussahen und neben denen sich ein paar kleine Fenster aus geripptem Glas befanden, und wir traten in das Häuschen einer dieser armen Personen, die gerade ein Feuer anblies, um einen kleinen Napf zum Kochen zu bringen. Als die Alte den Schullehrer eintreten sah, ließ sie den Blasebalg sinken und sagte etwas, das wie »Mein Charley« klang. Als sie dann auch mich bemerkte, rieb sie sich die Hände und knixte verlegen ein wenig.
»Kannst du diesem jungen Herrn vielleicht sein Frühstück kochen?« fragte der Schulmeister von Salemhaus.
»Ob ich kann? Natürlich kann ich.«
»Wie gehts Mrs. Fibbitson?« fragte der Schullehrer und sah eine andere alte Frau an, »die in einem großen Stuhl beim Ofen saß und in so viel Kleidern versteckt war, daß ich bis heute noch froh bin, mich nicht irrtümlich auf sie gesetzt zu haben.«
»Ach jämmerlich,« sagte die erste alte Frau. »Sie hat heute ihren ganz schlechten Tag. Wenn das Feuer zufällig ausginge, glaube ich wirklich, sie würde auch ausgehen und nicht mehr zu sich kommen.«
Als sie Mrs. Fibbitson ansahen, folgte ich ihrem Beispiel. Obgleich es ein warmer Tag war, schien diese Frau doch an nichts als an das Feuer zu denken. Ich glaube, sie gönnte selbst dem Napf sein Plätzchen nicht, und vermute, sie nahm es mir sehr übel, daß die Pfanne durch das Kochen meines Frühstücks noch länger in Anspruch genommen werden sollte. Ich sah nämlich mit meinen eignen müden Augen, wie sie mir während des Kochens mit der Faust drohte, als einmal niemand acht gab. Der Sonnenschein strömte zu dem kleinen Fenster herein, aber sie saß mit Stuhl und Rücken dagegen und schützte das Feuer, als wolle sie es eifersüchtig warm halten, anstatt daß es sie warm hielt, und bewachte es aufs argwöhnischste. Als die Vorbereitungen für mein Frühstück beendet waren und das Feuer frei wurde, freute sie sich so außerordentlich, daß sie laut auflachte; wie ich gestehen muß, sehr unmelodisch.
Ich setzte mich nieder zu meinem Schwarzbrot, dem Ei und dem Schinken und einem Napf mit Milch und hatte ein köstliches Mahl. Während ich noch in vollem Genusse schwelgte, sagte die erste Alte zu dem Schullehrer: »Hast du deine Flöte bei dir?«
»Ja,« antwortete er.
»Mach einen Blaser drauf,« sagte die alte Frau schmeichelnd, »bitte.«
Draufhin faßte der Lehrer mit seiner Hand unter seine Rockschöße und brachte eine Flöte in drei Stücken hervor, die er zusammenschraubte, worauf er zu blasen begann.
Nach langen Jahren der Überlegung muß ich doch immer noch bei der Meinung beharren, daß es niemals einen Menschen auf der Welt gegeben haben kann, der schlechter blies. Er brachte die gräßlichsten Töne hervor, die ich jemals auf natürliche oder künstliche Weise hatte erzeugen hören. Ich weiß nicht, was es für Melodien waren, – wenn es überhaupt Melodien waren, was ich sehr bezweifle, – aber auf mich übten sie die Wirkung aus, daß mir plötzlich alle meine Sorgen wieder einfielen und ich kaum meine Tränen zurückhalten konnte. Dann raubten sie mir den Appetit und schließlich machten sie mich so schläfrig, daß ich meine Augen nicht mehr offen halten konnte. Ich habe jetzt noch einen Drang zu nicken, wenn ich daran denke, und wieder steigt das kleine Stübchen vor mir auf mit dem offnen Wandschrank in der Ecke, den Stühlen mit den hohen Lehnen, der kleinen Winkeltreppe, die in die obere Stube führte, und den drei Pfauenfedern über dem Kaminsims. Gleich, als ich eingetreten war, hätte ich gerne gewußt, was sich wohl der Pfau gedacht haben würde, wenn er geahnt hätte, was aus seinem Federschmuck noch einmal werden sollte.
Das Bild verschwimmt langsam in Nebel und ich nicke und schlafe. Die Flöte wird unhörbar, und ich höre statt dessen die Räder der Postkutsche und bin wieder auf Reisen. Der Wagen stößt, ich wache mit einem Ruck auf, und die Flöte ist wieder da, und der Schulmeister von Salemhaus sitzt mit verschlungnen Beinen da und bläst kläglich, während die alte Frau verzückt vor sich hinschaut. Sie zergeht wieder in Nebel und er zergeht und alles zergeht, es ist keine Flöte mehr da, kein Salemhaus, kein David Copperfield, sondern nichts als tiefer, fester Schlaf.
Ich träumte, kam mir vor, daß die alte Frau in ihrer Verzückung immer näher und näher zu ihm gekommen sei dicht hinter seinen Stuhl, und den Arm zärtlich um seinen Hals schlänge, was dem Flöteblasen für einen Augenblick ein Ende machte. In dieser Pause hörte ich in einem Zustand von Halbschlaf die alte Frau Mrs. Fibbitson fragen, ob es nicht köstlich sei, worauf Mrs. Fibbitson antwortete, »Eijei ja« und dem Feuer zunickte, dem sie wahrscheinlich die Entstehung der Musik zuschrieb. Ich muß ziemlich lange geschlafen haben. Der Schulmeister von Salemhaus schraubte schließlich seine Flöte wieder in drei Stücke auseinander, steckte sie wieder ein und führte mich fort. Der Omnibus stand nicht weit und wir stiegen auf das Dach. Ich war fest eingeschlafen, als wir unterwegs einmal anhielten und man mich innen sitzen hieß, weil keine Passagiere mehr drin waren. Endlich fuhr der Wagen unter einem grünen Laubdach im Schritt einen steilen Hügel hinan. Dann hielt er und wir befanden uns am Ziel.
Wenige Schritte brachten den Schulmeister und mich an das Salemhaus, das, von einer hohen Ziegelmauer umgeben, sehr öde aussah. Über der Tür hing ein Brett mit der Inschrift »Salemhaus«, und durch ein Gitterfenster in der Tür musterte uns, nachdem wir geklingelt hatten, ein mürrisches Gesicht, das, wie ich nach dem Öffnen der Türe sah, einem dicken Mann mit einem Stiernacken, einem hölzernen Bein, hervorstehenden Schläfen und gleichmäßig um den ganzen Kopf verschnittenen Haaren gehörte.
»Der neue Junge,« sagte der Lehrer.
Der Mann mit dem Holzbein musterte mich von oben bis unten, wozu er sehr lange brauchte, schloß die Türe hinter uns und zog den Schlüssel ab. Wir gingen unter ein paar großen Bäumen auf das Haus zu, als er den Schulmeister zurückrief:
»Hallo.«
Wir sahen uns um, und der Mann stand in der Tür des Pförtnerhauses und hielt ein paar Stiefel in der Hand: »He! Der Schuhflicker war da und sagte, er könne sie nicht mehr flicken. Er sagte, es wäre kein Stück mehr ganz, – er möchte gerne wissen, was Sie eigentlich wollten.«
Mit diesen Worten warf er die Stiefel Mr. Mell – so hieß der Lehrer – vor die Füße, und dieser hob sie auf und betrachtete sie mit betrübtem Blick, als wir weiter gingen. Ich bemerkte jetzt zum erstenmal, daß seine Schuhe sich in einem sehr schlechten Zustand befanden, und daß an einer Stelle der Strumpf hervorlugte wie eine Knospe.
Salemhaus, ein viereckiges Gebäude aus roten Ziegeln