Anwendung von Prüfverfahren zur Ermittlung von transgenerationaler Kriegstraumatisierung. Dr. phil. Ilona Hündgen
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Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) brechen jedoch nicht selten erst im Alter aus (vgl. Schrader 2013), wenn mehr Ruhe ins Leben eingetreten ist und Unterdrückungsmechanismen des Verstandes schlechter funktionieren. Da PTBS zudem chronifizieren kann, sollte im Fall einer PTBS-Diagnose schnellstmöglich mit Traumatherapie begonnen werden. Kindheitstraumata wirken lebenslänglich, und Zeit allein heilt die entstandenen Wunden nicht (Schickedanz 2012, S. 71).
Dass bei meiner ehemaligen Probandin bisher keine PTBS diagnostiziert wurde, schließt das Vorhandensein von direkter und/oder indirekt-transgenerationaler Kriegstraumatisierung nicht aus.
In meiner Studie Hündgen 2020 vermute ich, dass meine Probandin direkt und auch indirekt-transgenerational durch Kriegstrauma belastet ist. „Transgenerationale Kriegstraumatisierung“ ist indirekte Traumatisierung über Generationen hinweg im Kontext von Krieg (vgl. Kap. 2.2). Mögliche Ursachen von indirekt-transgenerationaler Kriegstraumatisierung sind in der nachfolgenden Grafik genannt:
Abb. 2: Ursachen von transgenerationaler Kriegstraumatisierung
Kriegstraumata können, wie jede Form der Traumatisierung, über mehrere Generationen hinweg übertragen werden.
Ein direktes Kriegstrauma oder direktes sonstiges Trauma tritt in einer Generation 1 auf, indem eine Person, in der nachfolgenden Grafik P1, das Trauma direkt am eigenen Leib oder als direkter Zeuge erlebt (Hündgen 2020).
Diese direkt betroffene Person kann dann das Trauma durch Interaktion und/oder auch epigenetisch auf Nachfolgegenerationen übertragen:
Abb. 3: Transgenerationale Übertragung von Kriegstraumata
Die betroffenen Nachkommen der Generationen G2, G3, G4 usw. sind dann indirekt traumatisiert, weil sie das Ursprungstrauma nicht direkt selbst erlebt haben. Bei indirekt-transgenerationalen Traumata hat man es mit Entwicklungs-, Bindungs- und Beziehungstraumata zu tun (Bowlby, Ainsworth, Barwinski; Sänger 2013, S. 145), bei denen bei den Nachfahren aufgrund der Kriegstraumatisierung der Vorfahren zahlreiche Mikrotraumen über lange Zeiträume hinweg akkumulieren (sequenziell-kumulative Traumatisierung; Charf 2019). Wiederholte frühe traumatische Stresserfahrungen können die Stress-Reaktionssysteme von Grund auf, wahrscheinlich auch epigenetisch durch Ausschalten des Glucocorticoid-Rezeptor-Gens, verändern (Huber 2012, S. 10; Sautter 2016, S. 65 f.; Schubbe 2006, S. 47-51). Durch Dauerproduktion von Stresshormonen, vor allem von Cortisol, und durch eine dadurch dauerhaft gesteigerte elektrische Reizbarkeit von Schaltkreisen im limbischen System (Huber 2015, S. 13, Hüther 2002, Sautter 2016, S. 22 ff., 113 ff., 133 ff.) kann es zu einer „ständigen Alarmschaltung“ bzw. zu dauerhafter Übererregung (Hyperarousal) kommen. Daraus können direkte Traumafolgestörungen wie PTBS, komplexe PTBS, Depression und Anpassungsstörungen sowie komorbide Traumafolgestörungen und Komplikationen wie Ängste, Dissoziation, psychosomatisch-vegetative Symptome aller Arten, Immunabwehrschwäche, instabile Blutzucker-Stoffwechsellagen, Übergewicht, Gedächtnisstörungen und Süchte resultieren (s. Abb. 4; vgl. vor allem Schickedanz 2012, S. 74f.; s. Boon 2013, Hüther 1997, Hanswille 2014, S. 33-40). Die Bildung neuer Nervenzellen und Synapsen (Neurogenese, Synaptogenese) sowie die Integration beider Großhirnhälften können vermindert sein. Hält der traumatische Stress zu lange an, können verminderte Stressresistenzen lebenslänglich erhalten bleiben und weitervererbt werden. Trauma kann gemäß ICD-10 die folgenden primären Traumafolgestörungen zur Folge haben: F43.0: Akute Belastungsreaktion (ABR; nicht pathologisch) F43.1: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) F43.2: Anpassungsstörungen F43.8: Sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen F43.9: Reaktionen auf schwere Belastung, nicht näher bezeichnet F 62.0: Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Ex-trembelastung (= komplexe PTBS). Primäre Traumafolgestörungen können kombiniert mit sekundären und sonstigen Traumafolgestörungen auftreten:
Abb. 4: Traumafolgestörungen, modif. nach: Lode 2016, S. 4
Kinder, die kriegstraumatisierten, psychisch kranken, ängstlichen, gestressten, ambivalenten, überforderten, sich schuldig fühlenden, aus Angst überfürsorglichen, emotional überforderten, hilflos-verunsicherten, verzweifelten, suizidalen und/oder aber auch harten, narzisstischen, ablehnenden, distanzierten, lieblosen, unempathischen, abweisenden, egozentrischen, wenig Körper-kontakt gebenden, vernachlässigenden und/oder misshandelnden Personen ausgesetzt sind, können dauerhaft u.a. in grundlegenden Regulierungsprozessen, im Urvertrauen (Sautter 2016, S. 19) sowie in Bindung und Identität (Ruppert, Wiegand-Grefe 2013, S. 160) beschädigt werden. Wird im ersten Lebensjahr durch fehlende oder unsichere Liebe und Zuwendung der Eltern zu wenig Oxytocin (Bindungshormon) produziert, kann die Bindungsfähigkeit der Kinder irreversibel beeinträchtigt sein. Durch die Notwendigkeit, ständig aufpassen und sich auch vor Bezugspersonen schützen zu müssen, können Fremd- und Objektwahrnehmung optimiert und die Selbstwahrnehmung vermindert sein (Sautter 2016, S. 140).
Babys und kleine Kinder passen sich den Eltern grundsätzlich an, das ist ihre grundlegende Überlebensstrategie. Sie können zudem Belastungen der Eltern stellvertretend übernehmen (Hündgen 2020, Rauwald 2013, Sänger 2013). Im Mutterleib sind Babys hormonell an die Mutter gekoppelt: ihr Stoffwechsel funktioniert in vollständiger Resonanz mit dem der Mutter (Broughton 2016, S. 41f.). Bei Angst, Panik und Stress der Mutter werden in der Amygdala des Babys vergleichbare Prozesse wie bei der Mutter ausgelöst (ebenda). Deshalb erleben Babys in der Schwangerschaft alle Emotionen der Mutter, wie z.B. Ängste, aber auch Ambivalenzen, Verwirrungen, Verletzungen und Traumatisierungen, unmittelbar mit. Erst Monate nach der Geburt lernen Babys, zwischen sich selbst und der Mutter zu unterscheiden.
Ist die Bezugsperson traumabedingt in der eigenen Regulationsfähigkeit eingeschränkt, kann sie sich selbst nicht beruhigen – und somit auch nicht das Nervensystem des Kindes. Sehr kleine Kinder können Kriegstraumaprozesse nicht kognitiv verarbeiten, sondern wehren sie z.B. durch Spaltung ab (Barwinski 2013, S. 110). Sie erinnern sich später an nichts und fühlen nichts (Bode, Weichs 2019). Viele denken deshalb später, ihnen sei „nichts passiert“. Babys und sehr kleine Kinder sind mit am gefährdetsten und am leichtesten traumatisierbar.
Traumatisierung ist bereits ab dem Zeitpunkt der Empfängnis möglich und häufig und kann im Laufe des Lebens kumulieren:
Bei einem Bindungstrauma werden das Bindungssystem und das Verteidigungs- bzw. Abwehrsystem gleichzeitig aktiviert (s. Huber 2017-2, S. 6). So kann es dazu kommen, dass Liebe und Ablehnung gleichzeitig anwesend sind (Ambivalenz). Kinder, die wenig feinfühlig und/oder ambivalent behandelt, abgewertet, abgelehnt werden und/oder aber Elternteile bedroht und hilflos erleben, passen sich oft an, suchen die Schuld bei sich selbst, geben eigenständige Exploration auf, sind misserfolgsängstlich und werten sich selbst ab. Sie fordern ihr Leben lang die Zuneigung und Beachtung ein, die sie in der Kindheit nicht erhalten haben.
Abgewiesene Bindungswünsche können bindungssuchendes Verhalten verstärken (Wikipedia: Bindungstheorie), so dass bei regelmäßiger Abweisung, z.B. durch Feindseligkeit, Unsicherheit und/oder Stress der Eltern, ein destruktiver Kreislauf entstehen kann (Brisch 2012, S. 113-119). Starke Abweisung der Eltern kann beim Kind umso stärkeres Klammern und emotional-psychischen Stress bewirken. Starkes Klammern und Idealisieren von Elternteilen