Linders Liste. Peter Schmidt
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Auf dem bemoosten Boden unter seinen sanft im Winde baumelnden Füßen lag ein zugeklebter Umschlag ohne Adresse. Sein Abschiedsbrief, kein Zweifel. Darin fand ich zu meinem nicht geringen Erstaunen ein Geständnis zu Papier gebracht, wie ich es dieser liebenden Seele selbst in meinen kühnsten Träumen niemals zugetraut hätte:
Der elfjährige Sohn seiner Hauswirtschafterin hatte es ihm angetan!
Mein Onkel verzehrte sich in unerwiderter Liebe zu ihm …
Ich entsinne mich noch deutlich jenes rotznäsigen, leicht schielenden Knaben, dessen Hosentaschen immer mit Glasmurmeln, Sicherheitsnadeln, schmutzigen Taschentüchern und Bindfaden angefüllt waren.
Er trug zwei Scheitel – zwei Scheitel, hochverehrte Frau Doktor, die auf jeder Seite seines Schädels wie fettige schwarze, in die Kopfhaut geschnittene Filzbahnen auseinander klafften.
Gewöhnlich gingen wir uns aus dem Wege, denn eine unüberwindliche Abneigung hinderte uns vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft daran, mehr als zwei oder drei Worte miteinander zu wechseln. Es war, als spüre jeder sofort die tiefe Verschiedenheit unserer Existenz.
Er brachte nicht mehr als ein Gestammel heraus, wenn er bei Tisch gefragt wurde. Meine Eloquenz dagegen war schon damals im ganzen Ort gerühmt.
Die alten Militaristen in der Pension nannten ihn nur den „tumben Ziegenjäger“, denn sein Zeitvertreib bestand hauptsächlich darin, mit rostigen Sicherheitsnadeln und langen Fäden irgendwelche trickreich ersonnenen Sicherheitsleinen zu konstruieren, die das arme Vieh daran hinderten, sich frei im Gelände zu bewegen. Mein Onkel wurde trotz dieses grausamen Hangs nie müde, seine Vorzüge zu preisen.
Das alles wäre nicht weiter bemerkenswert gewesen, hätte seine unerwiderte Liebe sich nur damit begnügt, ein Torso zu bleiben.
Aber sein verrückter Drang brachte ihn dazu, sich selbst wie eine Ziege im Gelände zu bewegen, auf dass er sich in den ausgelegten Stricken verfange und von dem seltsamen Knaben gefunden und befreit werde. Dann wollte er die Gelegenheit nutzen und, notfalls mit Gewalt, sein Recht auf körperliche Befriedigung einfordern.
Dieser Gedanke muss sich zur wahren Obsession ausgewachsen haben, unter der er mehr litt, als ein einziger Mensch ertragen kann.
Die eine Seite seines Wesens hinderte ihn mit dem Appell an seine Klugheit daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen, die andere beschwor ihn fast täglich, es doch wenigstens zu versuchen …
Wenig später siegte seine Rechtschaffenheit: Er nahm den nächsten Bus zur Stadt, arrangierte ein Stelldichein mit einer stadtbekannten Nürnberger Prostituierten und gedachte das als Auftakt zu einem Leben in der Heterosexualität zu betrachten.
Kein Anschleichen von ganzen Schulklassen betörend schöner Knaben mehr; keine durchwachten Nächte, in denen ihn unerfüllbare Wünsche plagten. Der Hauswirtschafterin und Mutter des „tumben Ziegenjägers“ hatte er noch am selben Tage per Eilboten die Kündigung geschickt: Aus den Augen, aus dem Sinn …
Als Expertin für solche Fragen ahnen Sie natürlich, in welchem Debakel sein Versuch endete.
Er versagte kläglich. Vermutlich war er weniger bei der Sache, als sich selber seine Männlichkeit zu beweisen.
Der Spott des Weibsbilds, ihr Hohn und Gelächter, trieb ihn in seiner Scham und anschließenden Raserei schließlich dazu, sie mit ihrem eigenen Strumpfhalter zu erwürgen, eines jener roten Spitzendinger, die in der Vorstellung mancher Frauen die Kerle zu sexuellen Höchstleistungen treiben können – und hier finden wir nun auch die Aufklärung jenes mysteriösen Verbrechens, das Nürnberg einige Wochen lang in Atem hielt und noch heute als ungelöster Fall in den Polizeiarchiven sein verstaubtes Aktendasein führt.
Da man die Veranlagung meines Onkels kannte, war er völlig unverdächtig.
Er benutzte die Hintertreppe zu einem stillgelegten Schlachthof. Das Mädchen, das mit dem Opfer in derselben Wohnung lebte, ahnte nicht, was nebenan vorging (über Freier pflegt man in diesem Gewerbe nur selten zu reden: so wenig wie der Kaufmann über potente Kunden, die Konkurrenz ist schließlich groß).
Sie kurierte ihren Kater nach einer durchzechten Nacht aus.
Ich habe mich nie dazu durchringen können, jenen Brief an die Behörden weiterzuleiten …
Als ich meinen Onkel so baumeln sah – mit wirren Haaren, die blaurote Zunge zwischen den Zähnen – fand ich, er sei genug bestraft und müsse nicht auch noch als Mörder in die Annalen unserer Familiengeschichte eingehen.
Doch in meiner jugendlichen Seele hinterließ dieser Einblick in die gegensätzlichen Kräfte der Psyche – das Spiel der abstrusen Gelüste, Einfälle und Widerstände – so viel nachhaltigen Eindruck, dass mich fortan nichts so sehr interessierte, wie mein Wissen durch weitere Einzelbeobachtungen zu vertiefen und ihr Ergebnis in literarisch gültiger Form zu Papier zu bringen.
6
Hochverehrte Frau Doktor! Eben hat mir mein Anwalt die neuesten Ergebnisse der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in die Zelle gereicht.
Welch ein grandioser Justizirrtum zeichnet sich hier ab!
Nach seiner Überzeugung – er spricht es nicht so aus, aber man spürt es aus jedem seiner Winkelzüge wie den kalten Atem Sibiriens – sind Autoren, und erst recht die Vertreter meines Genres, zutiefst lügenhaft.
Es sei ein notwendiger Zug ihres Charakters, den Dingen immer eine unwahre Wendung zu geben. Schon das Bedürfnis, in anderer Leute Bluttaten herumzustochern und womöglich noch neue hinzuzuerfinden, spreche für ein rauschhaftes Erlebnis, eine uneingestandene Lust an der Gewalt. Ich glaube, er denkt, wir seien allesamt verhinderte Verbrecher und Mörder.
Welche makabre Lust könnte mich sonst dazu verleitet haben, ausgerechnet den Verleger Alexander Bernstein, jene wegen seines mutigen Eintretens für die Menschenrechte international angesehene Persönlichkeit, genau in jenem Moment aus der eisernen Deckengerüstkonstruktion des Speisesaales ins kalte Büfett stürzen zu lassen, als der Bürgermeister sein Sektglas zum Toast erhob?
Und welche Indizien führt er dafür an? Nichts weiter als die getreuliche Beschreibung seines Todes in meinem letzten, noch unveröffentlichten Roman …
Fanden sich auf Bernsteins goldenen Manschettenknöpfen etwa meine Fingerabdrücke? – Höchstens die seiner Sekretärin, denn am Abend in der Hotelbar hatte sie nichts anderes im Sinn, als ihm mit ihren langen, spitzen Fingern in den Ärmelausschnitt zu fahren (während die perlmutterfarbenen Nägel der anderen Hand seine behaarte Brust bearbeiteten). Hing zum Beispiel ein Schild an seinem Hals: Dies ist Linders erbarmungslose Rache für ein ungelesenes Romanmanuskript?
Oder hauchte er, ehe seine Seele endgültig entfleuchte, mit letzter Kraft meinen Namen in die Mayonnaise?
Nichts von alledem! Was verleitet diesen gemeingefährlichen Staatsbeamten, der in wenigen Monaten unbeschwert seine Pension genießen könnte, nur dazu, so gewagte Behauptungen aufzustellen?
Ich habe eine literarische Vorlage geliefert, nicht mehr.
Das Manuskript war in genau acht Exemplaren verbreitet,