Linders Liste. Peter Schmidt
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Das habe ich nun wahrhaftig oft genug zu Protokoll gegeben.
Kehren wir lieber an die romantischen Ufer des Ottawa River zurück, wo ich mit Slauters lange Nächte darüber diskutierte, was es den Herren Kritikern (und hier in Frankfurt offenbar auch den Herren Staatsanwälten und Richtern) so leicht macht, eine x-beliebige dichterische Äußerung gleich als autobiographisch anzusehen. Es mangelt ihnen anscheinend an Phantasie. Und so finden sie den Ursprung jeder Beschreibung zwangsläufig in der Realität. Wir sind „Abschilderer“. Aus einer einzigen Erzählung kann man mit neunundneunzigprozentiger Gewissheit auf unseren (beklagenswerten) Charakter schließen.
Ich weiß schon, was Sie darauf erwidern werden:
Man hat Sie nicht beauftragt, die Schuldfrage zu klären, das ist ganz und gar Aufgabe dieser phantasielosen Stümper, sondern einzig und allein darüber zu entscheiden, wie es nach der entsetzlichen Bluttat – gleich sieben prominente Verleger während einer einzigen Buchmesse, und dazu noch alle im selben Hotel – wann hat es das schon einmal gegeben? – um meinen Verstand bestellt sei. Heilanstalt oder Gefängnis … ja, ja, ich weiß.
Gestatten Sie mir, dass ich trotzdem kein Blatt vor den Mund nehme?
Selbst auf die Gefahr hin, dass es mich belasten könnte:
Ein großer Verlust für die Literatur sind sie nicht. Ich habe alle persönlich gekannt und – zugegeben – wegen meiner Manuskripte mit ihnen in Verhandlungen gestanden. Was man so Verhandlungen nennt!
Es war eher ein Monolog. Alle diese an und für sich so umgänglichen, immer freundlich lächelnden Wesen aus dem Druckgewerbe haben eines gemeinsam:
Sie lesen nur noch, wenn es sich nicht mehr umgehen lässt.
Sie lesen Bilanzen, Programme konkurrierender Verlage, die Tageszeitung, die Speisekarte des Hotelrestaurants, die Liebesbriefe ihrer Sekretärinnen – nur ein unvergleichliches Meisterwerk wie „Linders Liste“ (der Titel jenes Manuskripts, das der Mörder als Gebrauchsanleitung benutzte) musste ihnen notwendigerweise verborgen bleiben, denn es umfasst zweihundertachtzig Seiten – zweihundertachtzig … lassen Sie sich die Zahl nur ruhig auf der Zunge zergehen! Dann werden Sie vielleicht ermessen können, wie viel Leseschwäche in einen Topf geworfen werden musste, um auch nur ein Drittel oder die Hälfte davon mit befriedigendem Abschluss an jene Stelle im Gehirn zu transportieren, die für das Verständnis zuständig ist.
Aber diagnostizieren Sie deswegen bitte nicht gleich meinen tiefen Hass auf die Verlegergemeinde.
Nein, bewahre, sie lässt mich völlig kalt. Soll sie in Frieden ruhen, verehrte Frau Doktor. Niemand wird ihrer Totenruhe etwas anhaben wollen.
7
Im Alter von neun Jahren betrat ich eine Buchhandlung und sah zum ersten Mal eines jener neumodischen Werke, die als Literatur bezeichnet werden. Ich habe viele Wochen meines Lebens damit vergeudet, mich von dem magischen Eindruck zu befreien, mit dem sie gewisse versponnene und ihrer selbst unsichere Geister in den Bann zu schlagen pflegt.
Das seltsame Treiben, dem diese armen Menschen frönen, nennt sich „Dichtung“.
Niemand weiß so recht, was es ist, aber es fluktuiert auf irgendeine Weise zwischen den Zeilen – in etwa vergleichbar den auf- und niederschwappenden Wellen an einer öligen Kaimauer – und ungefähr genauso sinnvoll …
Wie gesagt brauchte ich lange Zeit, um das Rätsel jener hohen Bücherstapel zu lösen. Sie sind weder zum Zwecke der Unterhaltung noch aus sonst einem ernst zu nehmenden Grunde abgefasst (außer der Eitelkeit des Autors und dem Opportunismus des Verlegers natürlich, der die zufällig herrschende Wertrangordnung so sehr verinnerlicht hat, dass er seine Ehrerbietung auch einer Rolle Toilettenpapier darbringen würde, wäre sie nur als literarisch bedeutsam im Gespräch).
Alles, was sie auszeichnet, ist eine gewisse Sprachartistik – sieht man von ihren nicht enden wollenden Wehen der Seele ab, die sich offenbar geniert, mit den Dingen der Welt zu intim zu werden, und unter diesem Eindruck ein fürchterlich feinsinniges Auf und Ab der Gefühle und Stimmungen veranstaltet – amüsant zwar, aber für nie mehr als acht bis zehn Seiten gut.
Wer isst schon unentwegt die gleiche Sorte Nachtisch?
Mein schicksalhafter Eintritt in die Welt der Literatur hätte mich fast vom wahren Wege abgebracht, wäre an dieser Stelle meines Lebens – wie von einem wohlmeinenden Gott platziert – nicht ein echter Verbrecher aufgetaucht.
Ich meine: keine bloß seinen Lüsten verfallene Vogelscheuche wie mein Onkel Adalbert.
Gnädige Frau! Es ist kein krimineller Hang, wenn ich ihn in den höchsten Tönen preise! Ein wahrer Mensch! Stark im Fleische und stark im Geiste. Vielleicht weniger stark in den Zehn Geboten.
Aber wozu wären diese Regeln erfunden worden, wenn nicht wenigstens ein Exemplar der Gattung sie zum Zwecke ihrer Demonstration ein- oder zweimal in seinem Leben nachdrücklich brechen dürfte?
Es kam in der Gestalt meines Stiefvaters Alois Tüller, den ein wohlmeinendes Schicksal auf die Bildfläche zauberte wie das Kaninchen aus dem Zylinder.
Welche Art von Verbrecher, fragen Sie? Ein Politiker … natürlich, was sonst …
Meine Mutter hatte sich irgendwo zwischen den Bayrischen Alpen und Mailand von ihm scheiden lassen – die übliche Schnapsidee, denn wegen seiner Sesshaftigkeit hielt sie es nur ganze drei Wochen mit ihm aus. Das veranlasste ihn immerhin, sofort eine tiefe erzieherische Verpflichtung zu verspüren und sich meiner anzunehmen.
Eines Tages stand er im Schwesternzimmer des schäbigen vierstöckigen Waisenhauses, in das man mich mangels anderer Möglichkeiten verbracht hatte, und seine ersten Worte an mich waren:
„Junge, du brauchst eine starke Hand. Jemanden, der dir zeigt, wie es zugeht in der Welt. Das Lotterleben ist vorbei.“
Damals begann eine harte Zeit für mich. Hart, an meinen eigenen unausgegorenen Wünschen und Vorstellungen gemessen, aber genau jener Eimer Wasser, der wie eine kalte Dusche wirkte und mir die letzten Flausen nahm. Ich war erst ganze zehn Jahre alt.
Dieser Fellow aus Braunau am Inn hatte sich eben zum Reichskanzler gemausert, und mein Stiefvater Alois schloss sein kleines Parteibüro in der Münchener Friedrichstraße, weil sein politischer Instinkt ihm sagte, dass der Braune es mit Drohungen, Überredung und Terror leicht bis zum totalitären Einparteienstaat bringen würde. Vielleicht, weil zwischen den beiden eine Art Wesensverwandtschaft herrschte, die es ihm erlaubte, viel klarer vorauszusehen, was passieren würde als dem Durchschnittsbürger.
Er sagte: „Der Bursche ist ein noch durchtriebenerer Gauner als ich, Samuel.“ (Untereinander sprachen wir immer ganz offen.) „Hat man jemals einen größeren Wegelagerer in der Weltgeschichte gesehen? – was für ein ‚Hinterpfotz’, was für ein grandioser Raubritter … !“
Nach dem Studium von „Mein Kampf“ war er zu der Überzeugung gelangt, der fahnenschwingende Anfang und Auftakt läute zugleich das politische Ende des tausendjährigen Reichs ein, denn eine so große Hammelherde halte nie länger als bis zum nächsten Gewitter zusammen.
Daraus zog er den bemerkenswert prophetischen Schluss, dass bald schlechte Zeiten anbrechen würden – und so begann er mit dem Hamstern