Linders Liste. Peter Schmidt

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Parteibüro ein Leihhaus, wo man Schmuck, optische Geräte, Pelze und andere Wertsachen gegen ein zu verzinsendes Darlehen hinterlegen konnte. Meist war ihr Wert weitaus höher als der ausgezahlte Betrag. Also besaß mein Stiefvater ein verständliches Interesse, die Pfänder nicht wieder herauszurücken.

      Unser Verhältnis war bald zu so vortrefflicher Arbeitsteilung gediehen, dass ich im langen, graublauen Kittel hinter der Theke stand, Pfänder schätzte und Pfandzettel ausschrieb, während mein Onkel sich bemühte, diese Quittungen („Ohne Pfandzettel keine Herausgabe des Pfands!“) auf allen nur erdenklichen illegalen Wegen wieder zu beschaffen. Sie müssen sich das bildlich vorstellen, gnä‘ Frau:

      Ich, ein hübscher Knirps – noch ohne jeden Bauchansatz und verlängerte Stirn–, wie ein kleiner Gott, der über das Wohl und Wehe ganzer Familien entschied, hinter der Theke aus genageltem Eisenblech … und davor schwitzende, überschminkte, mit Schmuck behängte, in Pelze gekleidete Damen jenseits des besten Alters, denen die Peinlichkeit aus beiden Augen sah, weil sie mit dem Haushaltsgeld ihrer Ehegatten wieder einmal nicht zu Rande kamen.

      Denn es waren selten arme Leute, die uns aufsuchten. In den gehobenen Kreisen ist Sparsamkeit ein erstes Anzeichen wirtschaftlichen Verfalls. Also lebte man gern über seine Verhältnisse.

      Es kam zu jammervollen Szenen (und obszönen Angeboten, auf die ich hier nicht näher eingehen will), wenn ich, wie mir mein Stiefvater aufgetragen hatte, keinen Pfennig mehr als ein Viertel des echten Wertes herausrücken wollte. Manch eine der Damen warf dann ihren kostbaren Pelz auf den Boden, trampelte wutentbrannt darauf herum. Und einmal passierte es sogar, dass eine dabei ihr Pfand vergaß, eine kostbare goldene Taschenuhr mit eingelegten Silberornamenten – und niemals wiederkam … Ich hebe sie noch heute im Schreibsekretär meines Hauses drüben am Ottawa River auf, obwohl ihre Feder längst gebrochen ist.

      Mein Stiefvater ging derweil seiner eigenen Arbeit nach: Er verfolgte sein Opfer, das eben die Pfandleihanstalt verlassen hatte, bis zur Tram, zum Zug oder ins Gedränge des Marktes und wartete dort den günstigsten Moment ab, an dem er sich des Pfandscheins bemächtigen konnte.

      Er entwickelte in diese Tätigkeit bemerkenswertes Fingerspitzengefühl.

      Einmal demonstrierte er mir, dass es möglich sei, ein Stück Papier aus der Innentasche eines Jacketts oder Mantels zu ziehen und dabei gleichzeitig mit der anderen Hand das Portemonnaie des Opfers von der rechten Außentasche in die linke zu manövrieren.

      Ein rechter Jongleur, dieser Alois Tüller. Ich denke noch heute mit großer Bewunderung an seine Kunststücke zurück, wenn sie sich auch etwas außerhalb der Legalität bewegten. Mein am häufigsten ausgesprochener Kommentar hinter der Theke war denn auch:

      „Keine Rückgabe ohne Pfandzettel …!“

      Und zum Beweis legte ich dann immer ein Blankoformular des Pfandscheins vor, auf dem diese Bedingung deutlich und in gesperrter Schrift hervorgehoben war.

      Fasst man alles zusammen, hochverehrte Frau Doktor – die Betrugsmanöver meines Stiefvaters, den Mord und Selbstmord meines Onkels, die Kriegsverbrecher in seiner Veteranenpension –‚ so sieht man doch, dass ich schon sehr früh mit den wahren Realitäten des Lebens konfrontiert wurde – dass mein Blick geschärft wurde für das, was die Welt im Innersten zusammenhält; die Gier nach Besitz, nach Macht und Ansehen, nach Rache …

      In meiner jugendlichen Seele jedenfalls sind dies die Fixpunkte, die großen Beispiele, denen sich später noch zahllose kleinere zur Bestätigung beigesellten.

      Ich wurde nicht etwa selbst zum Verbrecher, sondern beschloss stattdessen, die Holzwege des menschlichen Lebens zu beschreiben. Die Katastrophen und Endpunkte. Die Sackgassen. Ein ehrenwertes Anliegen, wie Sie mir zugestehen werden. Weitaus ehrenwerter jedenfalls als der „Zehnfache Mord im Orientexpress“ oder irgendeine andere, bloß aus den Fingern gesogene kriminelle Abstrusität.

      8

      Kein Mensch, von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen, schreibt vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr einen Roman, der literarisches Gewicht beanspruchen könnte.

      Das ist, wie uns die Branche versichert, eine Faustregel, und man kann daran ermessen, dass ich, als ich mit neunundzwanzig Jahren „Gelber Flachs“ schrieb, meiner eigenen Entwicklung um mehrere Jahre voraus war.

      Es bedeutet aber nicht, ich hätte damit auch – wie der Staatsanwalt aus meiner Biographie herauslesen will –‚ frühreif und in einer Art nachpubertärem Schub, meinen Seelenhaushalt so weit ruiniert, dass ich nun, im Alter von vierundsechzig Jahren, aus literarischer Unzulänglichkeit einen siebenfachen Mord begehen würde – nach annähernd derselben Zeitspanne übrigens, die ich brauchte, um literarisch flügge zu werden!

      Diese Art von Zahlenmystik bleibt mir wohl für immer verschlossen – und Ihnen hoffentlich auch, gnädige Frau.

      Ebenso gut könnte man argumentieren, ich hätte sieben Verleger im Alter von neunundvierzig Jahren ins Jenseits befördern müssen, denn sieben mal sieben ist bekanntlich neunundvierzig. An den Haaren herbeigezogen?

      Nun, das ist das Wesen solcher Zahlenspiele. Wenn man mir überhaupt eine Schuld anlasten kann, dann ist es die der literarischen Urheberschaft.

      Dass ich jeden der Morde en detail beschrieben habe, dass sich der Täter daran hielt wie an eine gute Gebrauchsanweisung, jagt mir und Ihnen einen berechtigten Schauder nach dem anderen über den Rücken.

      Gewiss, „Werthers Leiden“ diente als Vorlage für zahlreiche Selbstmorde, und es sind schon Bankeinbrüche nach genau der in Gangsterromanen geschilderten Methode begangen worden. Manch eine Giftrezeptur brachte eine Leserin auf den rettenden Einfall, sich von ihrem tyrannischen Gemahl zu befreien.

      Aber was, so frage ich, sollte einen Autor veranlassen, seine eigenen Verbrechen in einem Buch vorwegzunehmen?

      Nennen Sie mir dafür irgendein überzeugendes Motiv, verehrte Frau Doktor!

      Zugegeben – die Sache ist heikler, als man auf den ersten Blick erfasst.

      Das Spiel von Realität und Fiktion verwirrt die Köpfe, und um wie viel mehr erst den Kopf eines Staatsanwalts, der womöglich sein Leben lang vergeblich danach trachtete, zum Generalstaatsanwalt aufzusteigen, und sich dabei intellektuell verausgabt hat.

      Rekapitulieren wir also kurz den Inhalt des Romans. Er deckt sich weitgehend mit dem, was Sie jetzt überall in den Zeitungen und Magazinen lesen:

      Der alternde und erfolglose deutschsprachige Schriftsteller Samuel Linder (jawohl, ich gebrauche für Linders Liste meinen eigenen Namen) ermordet sieben weltbekannte Verlegerpersönlichkeiten in ihrem Hotel, wo sie sich alljährlich zur Frankfurter Buchmesse treffen, weil sie – wieder einmal – seine Manuskripte nicht gelesen haben …

      Und nun passiert das Unerwartete:

      Eben jene in Linders Liste (einem Werk der Phantasie) beschriebenen Morde werden tatsächlich begangen. Anscheinend, weil keiner der ermordeten Verleger auch nur einen müden Blick hineingeworfen hat.

      Dieser Tatbestand entspricht – nach Meinung des Staatsanwalts – genau dem Inhalt des Buches. Beides, wie auch die Ausführung selbst, ist, sieht man von Zufälligkeiten ab, so gut wie deckungsgleich.

      Jeder Einzelne hätte dem sicheren Tode entgehen können, denn sein Ableben war genauestens beschrieben. Nicht zu lesen wurde mit dem Tode

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