Das Veteranentreffen. Peter Schmidt
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„Ein Ablenkungsmanöver? Wovon?“
Er lächelte sibyllinisch. „Von seinen wirklichen Motiven. Die alte Garde – Breschnew, Andropow, Tschernenko – war zu konservativ.
So kam man nicht weiter. Wirtschaftlicher Niedergang, Aufrüstung – eine Rüstungsspirale, bei der Mütterchen Russland über kurz oder lang den kürzeren ziehen musste.
Das Land war in latentem Protest. Schiebung statt Ideologie, Sander. Jetzt versucht man es einfach andersherum: Der Wolf hat Kreide gefressen …“
Ich ging achselzuckend weiter. Im ‚Blauen Zimmer’ konnte man einem Vortrag aus der Reihe ‚Weltanschauliche Gespräche’ lauschen, Titel: Unterlassene Hilfeleistung in der Politik.
Mir schien es, als sei das ein Gemeinplatz. Die Politik besteht aus nichts anderem, einmal davon abgesehen, dass die Politiker das große Spiel des gemeinschaftlichen Absahnens betreiben; aber die Veranstaltung war so gerammelt voll, als würden dort weltanschauliche Neuigkeiten verkündet.
Hinten stand man bereits auf zwei ausrangierten Kapellenbänken, die Bertrand in unermüdlichem Beschaffungsdrang aus der Sakristei einer nahe gelegenen Kirche besorgt hatte.
Ein smartes Kerlchen vom Politischen Seminar der hiesigen Universität – dunkelblauer Zweireiher, feinster Nadelstreif – zog Vergleiche zwischen unterlassener Hilfeleistung im privaten und politischen Bereich. Der Begriff, auf gesellschaftliche Verhältnisse angewendet, sei zwar ungewohnt, aber nichtsdestoweniger in der Sache zutreffend. Was unterscheide denjenigen, der einem Ertrinkenden im kalten winterlichen Fluss seine Hilfe versage, eigentlich von jemandem, dem es an politischem Verantwortungsgefühl mangele? Der seine Möglichkeiten zum Nutzen der Gesellschaft nicht voll wahrnehme?
Er vermied es, die Worte ‚alternde Agenten’ oder ‚pensionierte Geheimdienstler’ auch nur im Nebensatz zu streifen, aber jeder wusste, dass er nicht von irgendwelchen nebulösen Fähigkeiten, von Parteieintritten, Eingaben an Abgeordnete oder Protestkundgebungen sprach.
Asch hatte eine gute Wahl getroffen. Ich bewunderte die Geschicklichkeit, mit der er seinen neuen Verein zu indoktrinieren wusste.
Es gab praktisch keine Möglichkeit, seinen Ideen zu entgehen.
Selbst eine so harmlos erscheinende Nachmittagsveranstaltung wie „Wir spielen Schach mit lebenden Figuren im Gelben Salon“ geriet ihm schon nach wenigen Zügen zur politischen Werbeveranstaltung.
„Seht euch die Bauern an, das arbeitende Volk, Freunde. Vergleicht man ihre zahlenmäßige Stärke, so sind sie den Adeligen gegenüber keineswegs in der Minderheit – aber was bedeutet der herrschenden Klasse schon das Opfer eines Bauern?
Allein die Tatsache, dass es genug von ihnen gibt und dass ihre Kräfte und Einflussmöglichkeiten begrenzt sind, macht sie zu Figuren minderen Werts. Wir wollen Gleichberechtigung, Freunde, wahre Gleichberechtigung. Keine Lobby der Privilegierten. Das ist unsere verdammte Aufgabe in dieser Welt – wenn wir überhaupt noch etwas zu bestellen haben.“
„Klingt verdammt noch mal nach Sozialismus“, flüsterte Kuben in meinem Rücken.
„Ja, unser Sozialreformer redet sich langsam warm. Ist gerade dabei, die rhetorische Trickkiste zu öffnen. Sehen Sie sich nur seine fanatischen Augen an.“
„Und Sie wollen da wirklich mitmachen, Sander?“, fragte er skeptisch, aber mit verhaltener Stimme. „Die Versammlung hat Sie in den Vorstand gewählt.“
„So? Davon weiß ich noch gar nichts.“
„Bei der Klubgründung.“
„Dann muss ich vor der Abstimmung hinausgegangen sein.“
„Sie haben den Schmarren nicht mehr länger ertragen können, stimmt’s?“
„Warum sind Sie eigentlich hier, Kuben, wenn Sie das Ganze für einen so ausgemachten Blödsinn halten?“
„Und Sie?“, fragte er. „Wir können alle ein paar Tage Abwechslung und Entspannung gebrauchen.“
Ich ging weiter, denn im Kellergeschoss gab es die sogenannte ‚Nachmittagspizza’, ein Stück harter Teig, mit Tomatensoße und zerlaufenem Käse beschmiert, und das Gedränge in der Schlange war sicher einen Blick wert. Man musste kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich die Wölfe wegen der letzten Stücke die Kehlen durchbeißen würden.
Ein Blick in das Allerheiligste des Vernehmungsbüros lenkte mich jedoch davon ab, diesem Genuss in angemessener Weise nachkommen zu können. Die weißlackierte Eisentür stand offen, und ich sah Bertrand an einem hellen Limbaschreibtisch unter den Neonröhren des Heizungskellers sitzen.
Er trug einen grauen Anzug, und sein Hemdkragen mit der rotkarierten Krawatte war weit geöffnet. Seine Haltung – vorgebeugt und misstrauisch – erinnerte auf frappierende Weise an einen Vernehmungsbeamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde. Der Mann vor ihm, ein über und über von rosigem Flaum bedeckter Endsechziger, musste aus seiner ehemaligen Westberliner Sektion stammen.
Ich erinnerte mich, anlässlich eines Skandals, bei dem es um den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in einem grenznahen Jugendcamp gegangen war, von ihm gehört zu haben. Ein paar Meter entfernt und hintereinander angeordnet, gab es noch zwei weitere Schreibtische der gleichen Sorte. Ich nahm an, dass sie für Asch und mich reserviert waren.
„Kommen Sie, kommen Sie …“, sagte er, als er mich erblickte, und erhob sich eilig. Wir gingen hinter eine Trennwand, wo eine gemütliche Sitzgruppe war. „Asch möchte, dass Sie schon heute mit den Befragungen anfangen.“
„Nanu“‚ sagte ich. „Er wollte den armen Opfern doch noch ein paar Tage Zeit lassen, um sich einzugewöhnen? Was treibt ihn denn plötzlich zu so außerplanmäßiger Eile?“
„Wir liegen ausgezeichnet im Rennen, Frank. Die Resonanz auf unseren Vorschlag war hervorragend. Also bloß keine Zeit verschwenden, die Stimmung im Klub kann jeden Moment umschlagen.“
„Neue Order von der Gesellschaft für Ost-West-Verständigung?“
„Das alles hier kostet ‘ne Menge Geld, Frank.“
„Nun sagen Sie bloß, sie hätten plötzlich entdeckt, dass der Pizzateig nicht reicht?“
„Also, Ihren Sinn für Scherze hab ich noch nie teilen können, tut mir leid.“ Er zog mit leidender Miene ein doppelt gefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Anzugs. „Hier ist die Namensliste.“
Ich warf einen Blick darauf. „Sie haben Elvira für sich behalten, Sie alter Gauner“, sagte ich.
„Gehen Sie behutsam mit den alten Haudegen um. Niemals insistieren. Führen Sie dieselbe Frage wieder durch die Hintertür ein, wenn Sie ausweichende Antworten bekommen. Flexible Strategie, Vorwärtstaktik, aber mit genügend Zeit, um auf rührselige Reminiszenzen einzugehen. Das alles soll ja ein Vergnügen bleiben, Frank.“
„Klingt, als hätten Sie den Text von Asch auswendig gelernt, Bertrand?“
„Es sind sterbende Clowns, Frank. Man muss einfühlsam mit ihnen umgehen.“
„Also