Das Veteranentreffen. Peter Schmidt
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Ich suchte vergebens nach den angesprochenen Damen. Vielleicht waren ja einige der alten Knaben insgeheim Transsexuelle? Die Antwort kam wenige Augenblicke später in Gestalt eines uralten Schlachtschiffs mit matronenhaftem Ungetüm von blauem Federhut – und dahinter – ich wollte meinen Augen nicht trauen! – fast jugendlich schüchtern zwischen all den in die Jahre gekommenen Egozentrikern wirkend – eine uralte Freundin aus längst vergangenen Zeiten …
Ihre sanften, taubengrauen Augen ließen noch ein wenig von der einstigen Faszination ahnen, die sie einmal auf junge Männer ausgeübt hatte (ich glaube, sie war die einzige Frau der Welt mit taubengrauen Augen).
Jetzt standen dem wohl ihre mehr oder weniger barocken Formen im Wege: der winzige, aber immer deutlich sichtbare Ansatz zum Doppelkinn; aber auch ihr nicht mehr so gepflegtes, hell-blond gelocktes Haar, das etwas zu viel Wasserstoff abbekommen hatte. Ein wenig erinnerte mich ihr Aufzug an eine alte Porzellan-Puppe, die in einem selten benutzten Wohnzimmer auf dem Sofa vergessen worden war.
„Elvira …“, sagte ich (ihr Namensschild stand neben meinem), „was in aller Welt treibt Sie denn bloß in diese morbide Gesellschaft?“
„Und Sie, Frank?“
„War mal schrecklich in Sie verliebt – erinnern Sie sich noch?“
„Aber natürlich, Frank, das ist lange her.“
„Unendlich lange, ja.“
„Und wir sind beide nicht jünger geworden.“ Ihr Blick, während sie skeptisch meine Nasenspitze musterte, sagte alles. Wahrscheinlich hatte ich wieder jene tiefen dunklen Augenränder, die irgendetwas Schreckliches ahnen ließen. Schatten der Vergangenheit, ein Drama auf der inneren Bühne. Als verrieten sie nur zu deutlich meinen lockeren Lebenswandel. Dabei lebte ich schon seit Jahren ganz solide. Sexuelle Exzesse verbot mir einfach mein angeschlagener Kreislauf.
Er war zwar nicht derart in Unordnung, dass ich befürchten musste, jeden Augenblick vom Stuhl zu fallen. Aber auch nicht so in Form, dass ich noch wie einst ohne Spuren von Ermüdung die Nachtpferdchen in den frühen Morgen geritten hätte.
„Aber Sie sind immer noch die alte, Elvira.“
„Schmeichler …“
„Sehen Sie sich doch bloß die lüsternen alten Böcke an“, sagte ich und deutete unmerklich in die Runde. „Alle Augen hängen an Ihrem Gesicht, Elvira – vorsichtig ausgedrückt. Die ganze Räubergarde mit aufgeklapptem Taschenmesser in der Hose.“
„Das bin ich gewohnt, Frank.“
„Sie sollten niemals ohne meine Begleitung in den Park gehen, Elvira. Diese alten Kerle sind zu allem fähig. Vergehen gegen Recht und Gesetz waren mal ihr Geschäft.“
„Und Sie sind immer noch der gleiche schlimme Charmeur und Spötter, Frank“, stellte sie nüchtern fest.
Das Ungetüm mit blauem Federhut – wie aus einem alten Gemälde entsprungen, bei dem der Meister eine leicht karikative Haltung bevorzugt hatte – war keine geringere als ihre ältere Schwester Mona.
Härter im Nehmen und durchtriebener als jede andere Agentin nach dem Zweiten Weltkrieg, gestand mir Elvira.
Es klang, als müsse man sich besser vor ihr in Acht nehmen. Ich hatte von ihren Taten noch nicht das geringste gehört, was mir sofort Elviras abschätzigen Blick eintrug. Familienbande bedeuteten ihr mehr als eigene Erfolge, erst recht, weil sie ehelos geblieben war. Sie hatte immer nur ihre Pflicht getan.
Das Verblüffendste an dieser Darbietung war, dass Asch – der Meister, der Organisator, das Genie des Ganzen – sich plötzlich entschuldigen ließ.
Heute wäre sein großer Abend gewesen, die Galavorstellung, in der er sich den bewundernden Blicken seiner alten Kameraden aussetzen durfte. Lob und Anerkennung en gros. Segen über sein Haupt … wann durfte man schon einmal eine ganze Karaffe Kronberger Michelsporter auf das Tischtuch gießen, die Flasche zu neunundachtzig fünfzig, ohne später für die Rechnung aufkommen zu müssen?
Er hatte ein paar Tausender von dubiosen Stellen losgeeist, einer ‚Stiftung’, die allerdings ungenannt bleiben wollte, um uns allen dieses Treffen zu ermöglichen.
Bertrand, der sich immer mehr als sein treuer Adlatus entpuppte, kam mit einem Zettel in der Hand herein und verkündete düster:
„Asch ist aufgehalten worden. Bitte fangen Sie schon an – essen Sie. Er kommt später.“
Wir waren beim dritten Gang, und es begann hübsch ausgelassen und ordinär zu werden. Seine Aufforderung war mehr als bloß eine Frechheit. Sie entlarvte uns alle als ausgehungerte Almosenempfänger.
Aber Bertrands Bedürfnis nach Feinfühligkeit oder vornehmer Zurückhaltung war noch nie sehr ausgeprägt gewesen.
Jemand ließ die Gabel gegen ein Glas knallen – rief „Prost …“‚ und sofort folgte eine ganze Salve von klirrenden Feuerwerkskörpern.
Die eine oder andere Karaffe ging dabei zu Bruch. Immerhin veranlasste ihn das, mit eingezogenem Schwalbenschwanz Leine zu ziehen, die Linke verlegen am Frackrevers.
„Auf Bertrand“‚ rief jemand. – „Und auf Meister Asch“‚ ein anderer. – „Ja, zum Teufel, trinken wir alle darauf, dass wir diese grässlichen Jahre glücklich überstanden haben …“
Irgendwann, ich glaube kurz nach Mitternacht, stahl ich mich weg, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Asch war noch immer nicht erschienen. Ich sagte mir, so wichtig würde das, was er uns zu eröffnen hatte, nun auch wieder nicht sein.
Das Licht eines Autoscheinwerfers an der Zimmerdecke weckte mich – oder waren es zuschlagende Wagentüren? – und ich hörte Aschs befehlsgewohnte Stimme, sagen:
„Nicht vor dem Frühstück, Bertrand. Denken Sie immer daran, dass diese alten Knaben ihre Nachtruhe brauchen …“
Ich zog meinen Morgenrock an, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, sah aber nur noch Aschs wehenden, schwarzglänzenden Ledermantel durch den Hintereingang verschwinden.
Sein Anblick vermittelte mir immer das Gefühl, etwas von dem tranigen Robbenöl zu riechen, mit dem er sein Mantelleder pflegte (er schwor darauf – der obligate ‚Geheimtipp’; seiner Meinung nach war es das einzige Mittel, Leder in unserer mitteleuropäischen Witterung weich und geschmeidig zu erhalten), und weil die Entfernung viel zu groß war, um wirklich etwas riechen zu können, wurde mir plötzlich bewusst, wie stark wir auf alte Sinnesreize reagieren und wie viele plastische Erinnerungen, die fast schon Halluzinationen gleichkommen, durch sie ausgelöst werden.
Während meiner Arbeit hatte ich mich lange mit den Biographien und Lebensläufen östlicher Politiker beschäftigen müssen.
Ich hatte alte Fotos und Filme gesehen, Krankenberichte analysiert und dabei gefunden, dass die Konfrontation mit einem Zeitungsfoto einige Jahre später unvermittelt den Eindruck erzeugen konnte, man habe den Betreffenden nicht nur aus der Ferne, sondern auch persönlich gekannt. Tschernenko zum Beispiel, die Hinfälligkeit seiner Gebärden, kurz bevor er – so das öffentliche Bulletin – einem Lungen- und Leberleiden erlegen war, die Art, wie man ihn stützen und aus dem Zimmer geleiten musste, hatte mir beim ‘Anblick