Kreativer leben!. Nina Schaffrin

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Kreativer leben! - Nina Schaffrin

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eine völlig neue Perspektive geschenkt, indem er meine Aufmerksamkeit von dem weggenommen hat, was ich glaubte erreichen zu müssen, und sie zu mir zurückgelenkt hat. Denn wenn man über seine Gedanken und Gefühle schreiben möchte, ist es einfach dumm daran zu denken, wie diese Gedanken und Gefühle aussehen sollten. Man muss sich ansehen, wie sie tatsächlich aussehen.

      Klingt logisch, oder? Aber solche Dinge müssen nicht nur mit dem Verstand begriffen werden, sondern auch mit dem Herzen. Und deshalb bist du jetzt dran: Hol dir dein Notizbuch oder was auch immer du dir ausgesucht hast, einen unkomplizierten Stift und dann fängst du an zu schreiben. Wirst du jetzt unruhig und zählst Gründe auf, das lieber später zu machen?

      Sehr gut, das ist dein innerer Kritiker der anspringt. Das bedeutet, dass jetzt exakt der richtige Zeitpunkt zum Schreiben für dich ist. Nur Mut, ich bin bei dir.

      Setze dir ein Limit, entweder in Form einer bestimmten Zeitspanne oder eine bestimmte Menge an Seiten, die du schreiben wirst. 10 Minuten, 30, 60, eine Seite, zwei, drei – mach es dir nicht zu einfach, aber bleib realistisch. Wichtig ist, dass du nicht aufhörst zu schreiben, bevor die Zeit um bzw. die Seiten voll sind. Damit kannst du auch direkt eine Menge möglicher Einwände deines inneren Kritikers beseitigen. Hat er zu Bedenken gegeben, dass doch in einer halben Stunde deine Lieblingsserie anfängt, die du auf keinen Fall verpassen darfst, und dass es sich deshalb doch gar nicht mehr lohnt, heute noch zu schreiben? Fein, lege dein Limit auf 20 Minuten.

      Fang an zu schreiben. Beginne mit diesem Moment, mit dir. Was denkst du gerade? Was fühlst du? Wie fühlt es sich für dich an, jetzt zu schreiben? Bist du nervös? Dann schreibe "Ich bin nervös". Kommst du dir dumm vor? Schreibe "Ich komme mir dumm vor". Fällt dir nach diesem Satz nichts mehr ein? Schreibe "Jetzt fällt mir nichts mehr ein". Schreibe es hundert Mal wenn es sein muss, aber höre nicht auf zu schreiben bis dein Ziel erreicht ist. Ich

      garantiere dir, irgendwann kommt deine innere Stimme – die echte innere Stimme, nicht dein innerer Kritiker – durch dieses ganze Dickicht der Unsicherheit und brüllt: "Ich wünschte, mir fiele etwas ein, ich wünschte, ich könnte alles aufschreiben was ich denke und fühle, ich will gehört werden!" Denn wir alle wollen gehört werden. Und das Schreiben ist der stärkste und großartigste Weg dahin, denn wenn wir schreiben, sagen wir zu uns selbst: Was du zu sagen hast ist wichtig und ich höre dir zu. Und wenn wir das tun und diese Einladung aussenden, wird unsere innere Stimme frei zu sprechen lernen und das ist es, was man ein kreatives, erfülltes Leben nennt.

      Deshalb ist es so wichtig seitenweise Dinge zu schreiben, die sich vielleicht belanglos anfühlen. Ob du wirklich immer nur schreibst "Mir fällt nichts ein" oder ob du schreibst, worüber du dich auf der Arbeit geärgert hast – ganz egal, solange es das ist, was dich in diesem Moment beschäftigt. Stell dir deine innere Stimme als kleines Kind vor, das seinen Eltern am Abend erzählen will, was es alles im Kindergarten erlebt hat. Kleine Kinder können ewig über Kleinigkeiten sprechen, die uns ganz unwichtig vorkommen. Aber kämst du auf die Idee, ein kleines Kind anzubrüllen, es solle endlich mit dem Geschwätz aufhören und stattdessen einen pointierten Kommentar zur EU-Wirtschaft abgeben? Natürlich nicht. Also geh mit dir selbst auch nicht so um, nicht beim Schreiben und bitte auch sonst nicht.

      Ich lege dir dringend ans Herz, regelmäßig nach diesem Prinzip zu schreiben. Du kannst das in Form der Morgenseiten nach Julia Cameron tun und dir jeden Morgen eine feste Zeit zum Schreiben reservieren. Du kannst auch abends im Bett schreiben, in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit, im Büro auf dem Klo, ganz egal, aber schreibe. Gib dir selbst jeden Tag das Signal: Was du zu sagen hast ist wichtig und ich höre dir zu. Gib dir die Erlaubnis, jeden Mist, jede Belanglosigkeit, jeden Unsinn und jede Gemeinheit aufzuschreiben, die dir einfällt. Gib jeder Form von Widerstand, die in dir aufkommt, eine Stimme: der Unsicherheit, der Angst, dem Selbsthass, der Selbstkritik. Jeder einzelne dieser Gedanken wird sich zurückverfolgen lassen bis zu einem tief sitzenden Knoten, mit dem du einstmals deine Kreativität festgebunden hast. Wenn du ihn schreibend zurückverfolgst wirst du feststellen, wie sich dieser Knoten immer mehr lockert, bis er sich löst. Widerstände beim Schreiben müssen dir deshalb keine Angst machen und sollten dich auf keinen Fall dazu bringen, frustriert den Stift hinzuschmeißen und alles dranzugeben. Trage diese Kämpfe aus. Wenn dein innerer Kritiker sagt: Das ist doch alles Mist! frage zurück: Was daran ist Mist? Wenn er sagt: Was du schreibst ist unprofessionell und kindisch! frage zurück: Warum sollte ich professionell sein? Was gewinne ich dadurch? Was verliere ich durch Unprofessionalität? Und immer so weiter. Mit dieser Praxis wirst du jede kreative Herausforderung gehandhabt kriegen und vielleicht noch viele andere Probleme in deinem Leben. Deshalb kann ich dir nur dringend empfehlen: schreibe!

      Entweder das Schreiben macht dir Spaß oder du bist einer Goldader auf der Spur. Du kannst nur gewinnen! Das Ergebnis ist kein „Krieg und Frieden“ und wird dich vielleicht nicht auf die internationalen Bestsellerlisten bringen. Aber es bringt dich zum Schreiben und das ist das Entscheidende. Es bringt dich vorwärts. Wie gut kommt dein Erfolgsroman voran, wenn du gar nicht schreibst? Ganz genau. Dieses persönliche, authentische Schreiben aber bringt dich in Fluss, bringt dir ein Grundlevel an Produktivität, auf dessen Grundlage du aufbauen kannst. Vielleicht sogar den nächsten internationalen Bestseller, wer weiß.

      Eine andere Übung: Beschreibe mir, wo bist du jetzt gerade bist, was um dich herum ist und wie du gerade aussiehst – aber bitte mindestens auf drei verschiedene Arten. Such dir welche hiervon aus oder erfinde eigene:

       Schreibe so langweilig, wie du nur kannst.

       Schreibe so kitschig und klischeehaft, wie du nur kannst.

       Schreibe deinen Text als Twitter-Meldung mit maximal 140 Zeichen Länge.

       Schreibe gruselig, als handle es sich um eine Szene aus einem Horrorfilm.

       Beschreibe jedes Detail ganz genau.

       Beschreibe deine Szene, ohne dich selbst aktiv mit einzubringen (etwa: Der Kaffee wurde getrunken, das Buch füllte sich mit Zeilen, der Anruf wurde entgegengenommen).

       Tu so, als seist du eine Prinzessin, ein Piratenkapitän oder eine sprechende Maus und passe deine Szene entsprechend an ("Ich schreibe dies in mein goldenes Tagebuch...", "Ich schreibe dies auf dem Deck meines Schiffes, das nur Minuten von dem schweren Sturm entfernt ist, der es sicherlich zerschmettern wird. Der Kaffee ist passabel."). Bleib bei deiner Szene oder spinne die Geschichte so lange weiter, wie du magst.

       Beschreibe deine Szene, aber füge ihr eine Lüge deiner Wahl hinzu. Lüge glaubwürdig.

       Beschreibe dich selbst in deiner Szene auf überzogen verherrlichende Weise.

       Schreibe deine Szene aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers wie in einem Roman.

       Schreibe deine Szene aus der Perspektive eines Gegenstandes in deinem direkten Umfeld.

       Beschreibe deine Umgebung als seist du ein Mensch aus dem Mittelalter, der sich plötzlich hier wiederfindet.

      Siehst du, wie selbst die alltäglichste und ödeste Szene noch unglaubliches Potenzial zum Schreiben liefert? Und siehst du, zu wieviel zu in der Lage bist? Erzähl mir nicht, du könntest nicht schreiben oder du wüsstest nicht, worüber du schreiben solltest. Du kannst alles und alles andere sind nur Ausflüchte.

      Mein Rat lautet: Schreibe so viel und so oft du nur kannst. Nimm dir jeden Tag Zeit zum Schreiben und finde Wege, dich zu motivieren. Schreib mit rosa Tinte wenn das dein Ding ist, oder mit Bleistift oder mit einem teuren Füller. Übe auch dann, wenn du gerade nicht schreibst! Sieh dir deine Lieblingsautoren genau an, mach sie zu Vorbildern! Was gefällt dir an ihrem Schreibstil so gut? Imitiere sie oder füge zu ihren Geschichten Szenen hinzu, die abseits der

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