Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
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Im Herbst kehrte meine Mutter endlich zu uns zurück. Uns wurde allen ganz bange, als wir von ihr hörten, die Gräben, welche sie ausgehoben hatte, sollten die russischen Panzer aufhalten. Alle Erwachsenen und auch wir Kinder waren von schrecklichen Vorstellungen geplagt. Schlimm wurde es erst, als mein Vater für ein paar Tage zu uns auf Urlaub kam. Mit eigenen Ohren hörte ich, wir er ganz eindringlich mit meiner Mutter sprach, sie solle sofort Rudi von Rügen zu uns nach Schulzenhagen holen. Und wenn die Russen in Ostpreußen durchbrächen, solle sie uns nach Stettin oder noch besser weiter westwärts in Sicherheit bringen. Mein Vater musste wieder zu seiner Einheit zurück, die auf dem Rückzug schon die Karpaten erreicht hatte. Meine Mutter fuhr Anfang November wirklich los, um Rudi zu holen und brachte ihn nach einigen Tagen tatsächlich mit nach Schulzenhagen.
Das Weihnachtsfest verlief noch relativ ruhig. Die Sylvesternacht war wohl mehr als unheimlich, denn die Oma vom Hof orakelte, nachdem sie hinausgeschaut hatte: „Da steht uns aber ein schlimmes Jahr bevor, ist doch der Himmel rot und die Wolken eilen nur so dahin!“ Man brauchte aber kein Prophet zu sein, um Schlimmes vorherzusagen: Gleich im Januar ging es los! Das Jahr 1945 begann mit den ersten Flüchtlingswellen aus Ostpreußen! Die Bäuerin fuhr nun täglich zur Bahnstation nach Hohenfelde, die Milchkanne voller heißen Malzkaffees, den Kartoffelkorb voller belegter Brote. Die Züge, die aus Ostpreußen kamen, sahen verheerend aus! Meterlange Eiszapfen hingen daran, und sie waren völlig überfüllt mit Flüchtlingen! Wenn ich mal nach Hohenfelde mitfahren durfte und das Schreckliche gesehen hatte, fand ich die ganze Nacht keinen Schlaf!
Vom südlichen Belgard und Körlin und von Osten her kreisten die Russen Kolberg ein
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Im Februar rollten dann die ersten Flüchtlingstrecks auf unseren Hof. Nun brach hier das absolute Chaos aus! Jede Nacht schliefen fremde Menschen auf der Diele. Alle mussten versorgt und betreut werden, Menschen und Vieh! Fast alle Trecks ließen morgens bei der Weiterfahrt etwas von ihrem Gepäck auf dem Hof zurück, was sie für überflüssigen und entbehrlichen Ballast hielten. Es sah aus, wie in einem Warenlager. Das Schlimmste waren die Gespräche, die wir mithörten, von Gräueltaten der Russen unter der Bevölkerung, Angriffen auf die Trecks, unterwegs gestorbenen Älteren und Kindern. Und immer wieder das Wort: Vergewaltigung. Mir war so angst und bange zumute, ich kann es nicht beschreiben! Meine Mutter half tapfer mit, um das tägliche Chaos zu bewältigen.
Da kamen plötzlich Anfang März keine Trecks mehr, dafür hörten wir in der Ferne Kanonendonner! Meine Mutter packte wieder die bekannte Tasche mit unseren letzten Habseligkeiten. Es kam etwas Bedrohliches auf uns zu! Am Morgen des 3. März kam der Ortsbauernführer auf seinem Fahrrad auf den Hof, klopfte an die Fensterscheiben, und als geöffnet wurde, brüllte er hinein: „Keiner verlässt das Dorf!“ und war wieder verschwunden.
Als erste ging Frau Schiffner, die andere Evakuierte aus Stettin, mit ihren beiden Kindern an der Hand vom Hof. Sie trug einen Rucksack. Meiner Mutter und der Bäuerin sagte sie, sie habe genug Geld und wolle versuchen, von der nahen Reichsstraße aus nach Stettin mitgenommen zu werden. Wir haben sie nie wiedergesehen, und niemand weiß, was aus den dreien geworden ist.
Gegen Mittag, der Kanonendonner kam immer näher, ließ Frau Gödicke anspannen, um meine Mutter mit uns drei Kindern zur Bahnstation nach Hohenfelde bringen zu lassen. Der Ukrainer Willi lenkte die Pferde vom Hof. Vor lauter Tränen konnte ich die Zurückbleibenden kaum erkennen, und doch prägte sich das Bild, das ich sah, für immer in meine Seele ein: Frau Gödicke stand in der Haustür, beide Kinder umarmt, die Oma mit den Händen voller Einmachgläser, die man nun auch für die Flucht einpacken wollte. Aus der Scheune zogen Sina und Maria zusammen mit dem Polen den großen Leiterwagen heraus, um ihn für den Treck zurechtzumachen. Dieses geschah im absoluten Zeitlupentempo. Nun rollten wir nach Hohenfelde. Schon von weitem sahen wir, dass der kleine Bahnhof voller Menschen war. Wir standen nun zwischen den vielen Leuten und warteten, dass endlich ein Zug käme.
Am späten Nachmittag rollte auch tatsächlich ein Güterzug, der nur aus Loren bestand, heran. Alles stürmte auf den Zug, der im Nu voller Menschen war. Meine Mutter hatte in dem Gedränge große Mühe, uns zusammenzuhalten. Dann setzte sich der Güterzug langsam in Bewegung, und gleichzeitig begann ein schlimmer Schneesturm. Meine Mutter hatte zum Glück außer dem Handgepäck einen Sack voll mit Decken und Kissen mitgenommen. Eine der Decken holten wir heraus und hielten sie wie ein Zelt über unsere Köpfe. Der Zug rollte ganz langsam bis Henkenhagen, eine Station vor Kolberg. Hier mussten wir alle runter vom Zug, es ging nicht weiter, weil sich vor Kolberg die Züge stauten, alleine 22 aus Richtung Belgard. Auch hier das gleiche Bild: Alles schwarz von Menschen im und um das Bahnhofsgebäude. In der überfüllten Bahnhofshalle fanden wir in einer Ecke ein Plätzchen, wo wir uns hinkauerten und auch tatsächlich in einen unruhigen Schlaf fielen. Dann gegen Morgen, es war noch dunkel, kam plötzlich Bewegung in all die Menschen, die am Boden lagen. Alles stand auf und stürmte hinaus. Voller Entsetzen sahen wir in der Ebene, Henkenhagen lag etwas erhöht, dass überall brennende Flecken waren! „Das sind unsere Dörfer, da, unser Dorf steht in Flammen“, so hörte man um sich herum die Leute schreien. Es war furchtbar! Ich dachte an die zurückgebliebenen armen Menschen in Schulzenhagen. Ein Grauen beschlich mich.
Im Morgengrauen wurde ein Zug nach Kolberg eingesetzt. Dort mussten wir alle das Bahnhofsgebäude verlassen. Über Tote hinweg, die in der Bahnhofshalle lagen, liefen wir hinaus zu einer in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Gaststätte. NSV-Schwestern reichten uns warme Getränke, und meine Mutter wollte uns gerade das zweifach übereinander gezogene Zeug ausziehen, da hieß es plötzlich: Alle schnell wieder zum Bahnhof! Es fährt noch ein Zug in Richtung Westen, dann wird Kolberg zur Festung erklärt. So schnell wir konnten, eilten wir, schon unter Beschuss von See her, zum Bahnhof zurück. Dort stand tatsächlich ein Zug bereit. Aber was für ein Zug! Er bestand nur aus dachlosen Wagen, ganz vorne, gleich hinter der Lok, ein Personenwaggon. In diesen durften nur Schwangere und Mütter mit ganz kleinen Kindern einsteigen. Meine Mutter kletterte mit uns in einen der Wagen, und es dauerte nur wenige Minuten, da setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr aus Kolberg hinaus. Der Wagen, in dem wir kauerten, war ganz voller Menschen. Man konnte sich gerade etwas hinsetzen, aber weder hinlegen oder gar umhergehen.
Nun begann eine fast endlose Fahrt. Immer wieder stand der Zug stundenlang still, es schneite auf uns herab, es fror nachts, und uns war entsetzlich kalt. In der Ecke des Waggons stand ein leerer Kinderwagen, in ihn stopfte meine Mutter unseren Bruder Klaus. Er lag zwar ganz gekrümmt darin, aber die Kissen, die wir auf die Flucht mitgenommen hatten, hielten ihn warm. Hinter einer hochgehaltenen Decke musste man auf einem Eimer sein kleines oder großes Geschäft machen. Der Inhalt des Eimers wurde einfach über die Wände nach draußen geschüttet. Es waren ganz schlimme Zustände!
Das Wenige, was wir zum Essen mitgenommen hatten, war bald all und es kam der schlimme Durst! Die größeren Jungen, die in unserem Waggon waren, kletterten manchmal hinaus, wenn der Zug wieder stundenlang stillstand. Das war sehr riskant, niemand wusste, wann es weiterging. Und doch kamen sie mit Wasser und manchmal sogar mit Milch wieder bei uns an: Wie ein Wunder war es, dass wir keinen der Jungen verloren haben. Die Kinder bekamen dann alle etwas Milch, und etwas wurde noch aufgehoben. Der Rest war dann am Morgen zu Eis gefroren, woran wir nur lutschen konnten.
Je näher wir nach Stettin kamen, desto