Deutsche Schicksale 1945 - Zeitzeugen erinnern. Jürgen Ruszkowski
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In der Nacht setzten die feindlichen Flieger sogenannte Christbäume über unseren Köpfen ab, Markierungen für die folgenden Angriffe. Inzwischen war im Nachbarwaggon ein alter Mann gestorben. Seine Angehörigen wollten ihn nicht zurücklassen und banden ihn mit Stricken außen an den Waggon. Es war schaurig!
Für meine Mutter stand nun fest, dass sie diesen schrecklichen Zug in Stettin verlassen musste. Sie wollte mit uns zu Tante Grete, die noch in ihrer Wohnung in Braunsfelde war.
Am siebten Tag unserer Flucht erreichten wir morgens Stettin. Langsam fuhr der Zug über die Oderbrücke. Soldaten bewachten die an der Brücke befestigten Sprengladungen. Wir standen alle bereit, um, wenn der Zug hielt, irgendwie herauszukommen. Die jungen Burschen wollten versuchen, die Verriegelung außen aufzumachen. Der Zug wurde langsam und langsamer. Wir fuhren in den Hauptbahnhof ein. Militär und SA-Leute bevölkerten den Bahnsteig. Als die den am Waggon hängenden Toten sahen, drehten sie sich mit dem Rücken zum Zug. Wir warteten, dass der Zug halten würde – da heulten die Sirenen: Fliegeralarm! Der Zug nahm wieder Fahrt auf und verließ den Bahnhof und Stettin. Nun fuhr der Zug stetig weiter. An den Ortsnamen erkannten die Erwachsenen: Es ging in Richtung Greifswald. „Dort steigen wir auf alle Fälle aus“, sagte meine Mutter, „von dort schlagen wir uns nach Rügen durch.“ Mir war inzwischen alles egal, hatte ich doch starke Schmerzen am linken Fuß, konnte die Zehen nicht mehr bewegen.
Als wir in Greifswald ankamen, war wieder Militär auf dem Bahnsteig. Keiner durfte den Zug verlassen, aber wir wurden erstmals mit warmen Getränken und belegten Broten versorgt. Dann ging die Fahrt weiter. Stunden später, es war immer noch der siebte Tag unserer Flucht, erreichten wir einen Ort mit dem Namen Grevesmühlen.
Hier wurden wir offenbar schon erwartet. Auf dem Bahnsteig standen viele Hitlerjungen in Uniform mit Handwagen bereit, um uns und unser Gepäck in eine Schule zu bringen. Mich durften sie gleich mit aufladen, konnte ich doch keinen einzigen Schritt mehr gehen.
In der Schule, in der man uns unser Lager auf Stroh angewiesen hatte, stellten wir fest, dass eine Familie aus Schulzenhagen mit dabei war, eine Frau mit ihren zwei 15- und 11jährigen Jungen. Die Frau war zusammen mit meiner Mutter zum Ausheben der Panzergräben eingesetzt gewesen. Es waren auch Evakuierte aus Stettin dabei. Nun gab es wenigstens einige bekannte Gesichter in der Fremde!
Erst einmal kümmerte man sich um meinen Fuß. Der Schuh wurde aufgeschnitten, auch die zwei Strümpfe. Darunter kam ein entsetzlicher Anblick zum Vorschein! Die Zehen waren eine aufgequollene, weiße, wabbelige Masse! Nun wurde ich schnell zu einem in der Nähe wohnenden Arzt transportiert. Als der die Zehen sah, sagte er nur ein Wort: „Amputieren!“ Das nahm meine Mutter aber nicht hin, sondern mit ungeahnter Energie nahm sie mich wieder mit zur Schule. Am selben Tag wurden wir in der Siedlung am Tannenberg zur Familie Tanger in ein Privathaus eingewiesen. Dort legte man mich erst einmal auf das Sofa der Familie in die Wohnküche. Gegen Abend kamen zwei Krankenschwestern, die auch bei Familie Tanger einquartiert waren, von ihrem Dienst im Notlazarett nach Hause. Als erstes untersuchten sie meinen Fuß und kamen mit einer großen Tube Lebertransalbe wieder, womit sie die Zehen behandelten. Nun wurde der Fuß täglich neu verbunden, und tatsächlich fühlte ich nach einiger Zeit wieder Leben in den fast abgestorbenen Zehen: Es kribbelte und juckte! Einen großen Schmerz musste ich noch ertragen, als eines Tages mit einer strammgezogenen Binde die Zehen neu eingeteilt wurden. Aber danach ging es bergauf! Anfang Mai, als sich der endgültige Zusammenbruch des Dritten Reiches ankündigte, konnte ich das erste Mal wieder nach draußen in den Garten gehen. Ein glücklicher Zufall hatte mir meine Zehen erhalten und mich vor einer lebenslangen Behinderung bewahrt!
In dem kleinen Siedlungshaus war jedes Zimmer belegt. Meine Mutter hatte für sich und drei Kinder eine kleine Kammer zugewiesen bekommen. Unter einer Dachschräge standen zwei Betten hintereinander, in denen wir zu viert schliefen. Zur Familie Tanger gehörten zwei Jungen, fünfzehneinhalb und zwölf Jahre alt. Der Ältere arbeitete bereits und erzählte nach Feierabend von den neuesten Parolen, nun werde nämlich die Wunderwaffe eingesetzt. Wir warteten jedoch vergeblich darauf. Dafür kamen nun täglich mehr Soldaten auf dem Rückzug durch Grevesmühlen und mit ihnen die Tiefflieger. Ich war gerade mit Horst Tanger im Garten, da tauchten plötzlich die Flugzeuge hinter den Baumwipfeln des nahen Waldes auf. Wir schafften es nicht mehr bis zum rettenden Haus. Flach auf der Erde liegend, warteten wir den Angriff ab. Er galt aber dem Militär auf der Straße. Anschließend rannten wir schnell in das Haus. Die anderen Bewohner saßen alle auf der Kellertreppe. Nun fielen auch noch Bomben. Das Eingemachte klirrte in den Regalen, und wir hatten mal wieder Todesangst! Aber es ging alles glimpflich ab.
Dann hörte man Gewehrgeknatter. Die Straße war menschenleer! Als wir vorsichtig aus dem Fenster schauten, wehten hier und da weiße Fahnen aus den Fenstern, es waren meist Tischtücher und Bettlaken. Es dauerte aber noch Stunden, da sahen wir plötzlich die Amerikaner. Ganz lässig saßen sie auf ihren Jeeps und schauten uns nicht unfreundlich an. Hin und wieder wurde noch geschossen, aber auch das war bald vorbei. Endlose amerikanische Militärkolonnen durchfuhren Grevesmühlen. Einige Fahrzeuge, sie wurden meist von Farbigen gesteuert, machten in den Anlagen vor dem Bahnhof halt und richteten sich dort erst mal ein.
Einige Tage später, es herrschte Anfang Mai 1945 schon eine große Hitze, marschierten endlose Kolonnen gefangener deutscher Soldaten durch Grevesmühlen. Sie waren so durstig und völlig verschwitzt, aber es war uns Anwohnern nicht erlaubt, ihnen etwas zu trinken zu geben. Am Stadtrand von Grevesmühlen wurde beim Vielbecker See ein riesiges Gefangenenlager eingerichtet. Von der Zivilbevölkerung durfte niemand in die Nähe kommen, die Amerikaner schossen sofort. Im Lager muss sich Grausames abgespielt haben, die Gefangenen lagen auf dem nackten Boden, bald hatten sie sich Erdlöcher gewühlt. Nach einiger Zeit wurden die Gefangenen weiter westwärts nach Schleswig-Holstein gebracht. Der Hang am Vielbecker See hat Jahre gebraucht, um wieder grün zu werden.
Ende Mai brach eine schreckliche Typhusepidemie aus, die den ganzen Sommer über wütete. Fast in jedem Haus waren Erkrankte. Viele Menschen erlagen dieser schlimmen Krankheit, auch junge nahe Bekannte aus der Nachbarschaft, mit denen ich gespielt hatte.
Einige Wochen später lösten britische Besatzer die Amerikaner ab und am 30. Juni 1945 ging die Schreckenskunde von Mund zu Mund: Die Russen kommen! Es wurde eine Ausgangssperre verhängt. Wir liefen im Haus von einem Fenster zum anderen und wollten sehen, was sich draußen abspielte. Das Wohnzimmer der Familie Tanger war wieder frei: Die Krankenschwestern waren plötzlich verschwunden. Dort hatten wir nun einen freien Logenplatz und konnten die Straße übersehen. Am Nachmittag tauchten dann plötzlich Pferdewagen auf, hochbeladen mit Kriegsbeute, sogar Spülklosetts waren angebunden! Die Russen marschierten nebenher. Der ganze lange Tross bewegte sich in Richtung Waldesrand. Nun war die Straße leer, und wir Kinder drückten uns an der Fensterscheibe unsere Nasen platt. Plötzlich kam ein einzelner Russe anmarschiert und steuerte genau auf unser Haus zu. Wir waren alle furchtbar erschrocken. Meine Mutter, so couragiert sie war, ging als einzige an die Haustür. Der Russe trat in den kleinen Flur, drückte meiner Mutter ein Bündel in die Hand und machte eine Bewegung, die hieß, sie solle die Wäsche waschen. Dann verschwand er wieder. Na ja, ich nehme an, die Frauen haben sich angestrengt, alles sauber zu bekommen. Am Abend des nächsten Tages kam der Russe jedenfalls wieder,