Die Kostenvermeidungsdirektive. Jens Wahl
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Nach dem Begrüßungskuss sagte Gudrun wie immer, dass ihr Mann furchtbar nach dem Bier schmecke und nach Tabak stinke, obwohl er Nichtraucher war. Wie sonst soll ein Mann riechen und schmecken, wenn er aus der Kneipe kommt? Nach Parfüm? Das würde bei jeder Ehefrau sofort Misstrauen erwecken.
Er kam nach dem Duschen in die hell eingerichtete Stube. Familie Klarmann hatte sich nicht so eingerichtet, wie es durch die Marketing-Strategen gerade als 'modern' vorgeschrieben wurde mit dunkelbraunem bis schwarzem Mobiliar, sondern so, wie es ihnen am besten gefiel: eine Wohnwand im inzwischen veralteten Stil in ganz heller Buche-Optik. Diese konnte gerade noch so den weiß umrahmten LED-Fernseher aufnehmen. Ein Vorteil dieses alten Stiles war, dass man gegenüber diesen neumodischen, meist offenen, Kästen eine Menge darin staubgeschützt verstauen konnte. Dazu zartgelbe Übergardinen, deren Ton sich in den Stuhl- und Sesselauflagen wiederholte. Gegenüber der Wohnwand nahm ein riesiges Poster mit einer Rosenblüte in vielen Gelbtönen einen Großteil der weißen Wand ein. Ein großer, heller und kaum gemusterter Teppich verdeckte den größten Teil des dunklen Parkettbodens. Das Problem beim Kauf der Wohnwand war gewesen, solch eine Wohnwand noch zu bekommen: Was nicht als modern vorgeschrieben wird, ist kaum in den Läden zu finden. Sie waren nach einer Internetrecherche extra in ein Möbelhaus nach München gefahren, um die Wohnwand kaufen zu können.
Als ihr Mann ins Zimmer kam, schaltete Gudrun den Fernseher aus. "Du kannst ruhig weiter schauen, ich wollte dich nicht stören", sagte Torsten zu ihr. "Machst du auch nicht. Aber diese Dokumentation nervt mich wieder einmal, wie so viele neue Filme: Die Dialoge sind gegenüber der unterlegten Musik so leise, dass man nichts versteht. Stellst du die Lautstärke höher, wird die Musik zu laut. Ich kann nicht begreifen, weshalb das inzwischen bei jeder Sendung so sein muss! Weshalb ist es denn nicht möglich, Dialog und Musiklautstärke zu normalisieren? Ständig muss man mit der Fernbedienung die Lautstärke nachregeln, das macht einfach keinen Spaß!" "Wahrscheinlich schauen sich die Produzenten nie ihre eigenen 'Machwerke' an", vermutete er ironisch und setzte sich dann vor den PC: „Ich will nur noch schnell Mails abholen.“ „Wartest Du auf etwas?“, fragte sie ihn. „Nö, nur so mal schauen.“ Seine Frau und der Computer waren zwei Welten, die wohl nie so richtig zusammenkommen werden. Sie nutzte den PC nur als bessere Schreibmaschine. Mit dem Internet wollte sie wegen der möglichen Gefahren einfach nichts zu tun haben. Dies blieb, neben allem Technischen, sein Ressort in der Familie.
Und dann hing er doch länger an einer der E-Mails. „Was gibt es denn?“, drängte Gudrun neugierig ihren drei Jahre älteren Mann. Klaro überlegte kurz, drehte sich dann zu ihr um und fing an, zu erklären: „Wir haben doch vor, Anfang kommenden Jahres eine einwöchige Kanaren- und Madeira-Kreuzfahrt mit AHOS zu unternehmen. Ich bin gerade am Überlegen: Jetzt ist von denen ein Angebot für zwei Wochen mit der 'Atlantico' gekommen für nur 270 Euro mehr pro Person gegenüber der einwöchigen Reise. Die haben den Dampfer wohl nicht ganz voll bekommen.“
„Die 'Atlantico'?“, fragte sie. Beide hatten Ende 2011 ihre erste Kreuzfahrt auf der „Atlantico“ nach Südamerika unternommen, gleich zwei Reisen hintereinander über vier Wochen. Zwei Jahre später waren sie im Mai mit demselben Schiff zwei Wochen in Norwegen gewesen. Jedes Mal hatte es ihnen sehr gut gefallen. Man sah viele Orte, ohne jeden Tag die Koffer packen zu müssen. Es gab keine überbuchten Kabinen. Die Sauberkeit ging in Ordnung. Das Büfettessen war toll. Und beide fühlten sich irgendwie umsorgt und sicher. Sie hatten das Gefühl, so auch noch als Rentner verreisen zu können - so weit dies Rente und Miete zulassen würden.
„Und wo schippern die da lang?“, interessierte sich Gudrun für die Route. Den Begriff „schippern“ hatte sie von ihrem Mann übernommen, der in Rostock Schiffbau studiert und damit ein paar norddeutsche Begriffe in seinen Sprachschatz importiert hatte. Nur rein zufällig war er nach Abschluss des Studiums auf der Software-Schiene „gelandet“, hatte aber sehr schnell daran Spaß gefunden und war dabei geblieben.
„Kanaren, Madeira und dazu noch die Kapverden. Santiago hatte uns doch so gut gefallen vor vier Jahren. Wollen wir das nicht buchen? Die 'Atlantico' ist mit etwa 1.100 Passagieren auch nicht so groß wie die 'Caribico' mit ihren 4.500 Gästebetten, die die einwöchigen Touren fährt.“ Vor diesem riesigen „Kasten“ grauste es beiden etwas - eine Kleinstadt mit den Abmaßen von etwa 320 mal 35 Metern on Tour. Zu den Passagieren kamen ja noch mehr als 1.000 Besatzungsmitglieder.
„Wie unterscheiden sich die Touren?“, wollte sie wissen. „Beide fahren ab/bis Gran Canaria. Die 'Caribico': La Palma, Teneriffa, ein Seetag, Madeira, ein Seetag, Lanzarote. Und die 'Atlantico': La Gomera, zwei Seetage, São Vicente, Santiago, zwei Seetage, Teneriffa, La Palma, ein Seetag, Madeira, ein Seetag, Fuerteventura.“
Gudrun wurde vorsichtig: „Willst Du dir wirklich mit deinem Rückenproblem nochmals die Straßen von Santiago antun? Denk doch an die vielen Speed Bumps und die Kopfsteinpflasterstrecke auf der Rückfahrt!“
Torsten hatte vermutlich durch einen Infekt vor ungefähr zehn Jahren zwei Wirbel im oberen Bereich der Brustwirbelsäule verloren, genauer gesagt den dritten und vierten Wirbel der Brustwirbelsäule. „Vermutlich“ deswegen, weil erst auf Krebs getippt, aber trotz wochenlanger Sucherei nichts gefunden worden war. So blieb es bei der Vermutung eines Infektes als Ursache. Mit zwei Titanstangen rechts und links der Wirbelsäule wurde die physikalische Festigkeit des Skelettes wieder hergestellt. Nachteilig an den Implantaten war, dass durch das Anbohren der Rippen zur Befestigung der Stangen daran die Festigkeit der Rippen im Bereich der Verschraubung deutlich geringer als normal war. Als weiterer Nachteil erwies sich die so erfolgte Versteifung eines Teiles der Wirbelsäule. Hinzu kam, dass er nicht viel heben durfte. Für ein gefülltes Hefeweizenglas reichte es aber noch. Er musste vor allem schlagartige Einwirkungen auf die Wirbelsäule möglichst vermeiden. „Wir werden nur schon zu Beginn der Fahrt dem Guide Bescheid geben, dass der Fahrer langsam über die Kopfsteinstrecke fährt. Über die Bodenwellen ging es ja auch von allein sehr vorsichtig. Dann wird schon alles gut gehen“, dachte Gudrun laut nach. Während ihrer Südamerika-Reise gab es mehrere Ausflüge, die durch AHOS als „nicht geeignet für Schwangere und Gäste mit Rückenproblemen“ gekennzeichnet waren, meistens Jeep-Touren im Gelände. Die Inselrundfahrt auf Santiago besaß keinerlei derartige Kennzeichnung, also sollten auch Gäste mit Rückenproblemen teilnehmen können.
Aufgrund seiner Behinderung fühlte sich Torsten manchmal als Krüppel und nutzlos, zumeist dann, wenn er immer wieder Schmerzen hatte. Letzteres hing meist von der Belastung seines Rückens ab. Wenn er aber junge Menschen im Rollstuhl sitzen sah, querschnittsgelähmt oder ohne Beine, dann fühlte er sich ihnen gegenüber schon wieder privilegiert und war froh, „nur“ mit der Versteifung der Wirbelsäule leben zu müssen.
Torsten hatte dann aber doch noch einen Einwand: „Allerdings fahren die zu diesem Sonderpreis schon dieses Jahr im November - würdest Du da freibekommen?“ Sie nickte. „Wir haben doch jeder noch mindestens 16 Urlaubstage, das sollte reichen. Und meine Chefin Claudia wird froh sein, wenn die wenigstens teilweise wegkommen. Wenn wir für ein paar Tage dem nebligen Novemberwetter entfliehen können, bin ich gewiss nicht böse darüber!“
Sie waren sich einig, freuten sich auf den nun fast feststehenden Urlaub und zeigten sich hinterher, dass sie sich beide trotz der vielen Ehejahre immer noch sehr liebten und begehrten. Als sie sich mit etwa dreißig Jahren kennenlernten, hätten sie nicht gedacht, im jetzigen Alter noch Sex zu haben. Doch beide waren froh, dass es immer noch so gut klappte.
Vor einigen Monaten hatte Gudrun ihren Mann plötzlich mit der Frage konfrontiert, ob es nicht unanständig oder ekelerregend sei, in ihrem Alter noch Sex