Der ganz normale Wahnsinn. Anton Weiß
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Das Ich stößt sich eigentlich unentwegt an etwas, worin letztlich eine tiefsitzende Unzufriedenheit und Unerfülltheit zum Ausdruck kommt. Nichts ist recht, nichts passt und man merkt selber die Unzufriedenheit, für die man eigentlich keinen Grund angeben kann. In der Schizophrenie-Forschung ist von Vulnerabilität die Rede, Verletzlichkeit. Kleinigkeiten des täglichen Lebens, die nicht so sind, wie man es sich vorstellt – dass der Vorhang nicht richtig fällt, dass das Bild schief hängt, dass das Essen zu wenig gewürzt ist, dass die Fransen des Teppichs nicht gleichmäßig ausgerichtet sind - verletzen und beieinträchtigen das Wohlbefinden. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, sich davon in einem vernünftigen Maß zu distanzieren und seine Frustrationsschwelle zu erhöhen, dann gilt er als krank. Hierher würde ich auch Fälle rechnen, wo ein Engländer Schadensersatz zugesprochen bekommt, weil an dem Urlaubsort nur Deutsche waren, mit denen er sich nicht unterhalten konnte oder – noch unglaublicher – dass jemand Schadensersatz dafür bekommt, dass er am Urlaubsort mit Behinderten am Nebentisch auskommen musste. Das ist krankhaft übersteigerte Vulnerabilität, die von Gerichten sanktioniert wird! Es ist ein Abbild unserer gesellschaftlichen Einstellung zum Ich.
Wenn der Ärger zu einer unbeherrschbaren Wut wird, dann ist es ein Symptom der Borderline-Persönlichkeit. Ärger und Wut kennt jeder; wann es krankhaft ist, entscheidet der gesellschaftliche Konsens; im Grunde sind es nur Gradunterschiede.
Das Ich ärgert sich, wo das Individuum nur staunt, sich wundert oder eine Ansicht bzw. ein Verhalten als interessant findet. Es ist nicht so, dass man als Individuum den Ärger unter Kontrolle gebracht hat – das ist die Weise des Ichs, mit solchen Dingen umzugehen, und solange man nicht Individuum ist, ist solche moralische Leistung des Ichs durchaus wünschenswert, da es menschliches Zusammenleben ermöglicht -, sondern im Individuum entsteht der Ärger gar nicht mehr, da man nicht mehr der Ich-Haltung unterliegt.
Die Kehrseite des Ärgers ist die Unduldsamkeit, dass jemand nicht zulassen will, dass Dinge anders geschehen als er es für richtig hält. Ein anderer hat es so zu machen wie ich es will, und das ist im Grunde Wahnsinn, wenn z. B. ein Vater darüber bestimmt, welchen Mann seine Tochter heiraten muss, wie es bei uns früher war – Romeo und Julia sind das literarische Beispiel dafür - und heute noch in nicht wenigen Ländern und Kulturen der Fall ist. Wagt es eine Tochter, sich dem zu widersetzen, dann kann sie unter Umständen ihr Leben riskieren. Hier wird die unerbittliche Haltung eines Ichs sehr deutlich sichtbar, es ist aber keine vom Prinzip her andere Weise, als wenn Eltern ihr Kind unbedingt auf eine höhere Schule schicken wollen, auch wenn es offensichtlich nicht dafür geeignet ist. Das Unglaubliche besteht darin, dass sogar in beiden Fällen der Vater bzw. die Eltern überzeugt sind, aus Liebe zu ihrem Kind zu handeln und gar nicht sehen können, wie sehr es ihr Ich in seinen Vorstellungen ist, das ihre jeweilige Absicht bestimmt. Auch hieran kann man aufzeigen, wie viel Leid durch die Ich-Haltung in die Welt kommt.
Nimmt diese Haltung politische Formen an, dann zeigt sie sich im terroristischen Fundamentalismus mit seinen Selbstmordanschlägen oder im Nationalsozialismus mit seiner Vernichtung Andersdenkender. Immer, wo andere Menschen unterdrückt werden, steht im Hintergrund die Haltung, dass jemand nicht zulassen will, dass ein anderer sein eigenes Leben führt und gestaltet. Und das ist genau die Ich-Haltung. Nur das, was ich für richtig halte, wie ich es sehe, was ich will, darf gelten und muss auch für den anderen gelten. Und diese Haltung zeigt sich schon im kleinsten Kindesalter, noch dazu wenn es durch eine partnerschaftliche Erziehung, die heute gang und gäbe ist, gefördert wird. Die erschreckenden Konsequenzen hat Winterhoff in seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ aufgezeigt.
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