Am Ende des Wohlstands. Shimona Löwenstein

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Am Ende des Wohlstands - Shimona Löwenstein

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geringe Konkretheit und Abstrahierung von den bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die das an sich vernünftige Anliegen manchmal in sein Gegenteil verkeh­ren. So hat man schließlich im Namen der ungeklärten „Eigenverantwortung“ allmählich viele Sicherheiten und Rechtsansprüche des Sozialstaats beseitigt und in mehreren Bereichen (vor allem dem Arbeitsmarkt) teilweise amerikanische Verhältnisse [72] geschaffen, ohne jedoch die amerikanischen Möglichkeiten zu besitzen.

      Überdies wurde in der Kritik die Rolle der demographischen Entwicklung als einer der grundlegen­den Aspekte des gesellschaftlichen Wandels und die „Alterung der Gesellschaft“ vermutlich überschätzt. Die Horrorszenarien (ausgestorbene Städte, leerstehende Wohnungen, leere Kinderkliniken und Schulen usw.) [73] mit begleitenden statistischen Schätzungen, wie viele Rentner zu welcher Zeit von einem ökonomisch Aktiven unterhalten werden müssen, wenn der Trend zur Kinderlosig­keit anhält, bieten ein überzogenes, auf dieses eine Aspekt reduziertes Zukunftsbild. Der Journalist Frank Schirrmacher schrieb 2004 ein populäres Buch über das Altwerden der Gesellschaft, in dem dieser Trend so aufgebauscht wird, als stehe uns ein „Krieg der Generationen“ bevor. [74] Der sozialdemokratische Kritiker des Neoliberalismus Albrecht Müller meinte dagegen, die negativen Darstellungen und bedrohlichen Szenarien, beispielsweise in bezug auf die „demographische Katastrophe“ seien nicht nur überzogen, sondern beruhen auf eiskalten Lügen und falschen Annahmen mit dem Zweck, die soziale Gerechtigkeit auszuhebeln. Der von der politischen Klasse als Rettung präsentierte Reformpaket enthalte in Wirklichkeit nur leere Versprechungen und werde katastrophale Folgen haben. [75] In seinem nächsten Buch Machtwahn (2006) behauptet er, daß die Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik – ein Netzwerk mittelmäßiger Eliten – mit ihren Reformen gewachsene Strukturen des Sozialstaats rücksichtslos zerstören, um eine Wirtschaft ohne Regeln durchzusetzen, und damit das Land zugrunde richten. In seinem weiteren Buch Meinungsmache (2009) beschreibt er schließlich, wie mittels systematisch inszenierter Kampagnen die öffentliche Meinung (hinter der sich oft mächtige Interessen verbergen) beeinflußt wird. [76] Trotz aller Vorurteile, die man bei vielen traditionellen Sozialisten findet, scheint die Kritik der auf neoliberalen Pauschalrezepten beruhenden Pseudoreformen durchaus berechtigt.

      Jedenfalls ist der Trend zur Bevölkerungsabnahme in Wohlstandsländern in fortgeschrittenem Stadium ganz normal und nicht unbedingt bedrohlich. Ge­fährlich scheint vielmehr das Gegenteil davon – die Überbevölkerung, in deren Züge (zwecks Abbau des Überschusses) immer wieder Kriege und Bürgerkriege ausbrechen und Geno­zide geschehen, wie es zum Beispiel der Völkermordforscher Gunnar Heinsohn zu zei­gen versucht. Die Problematisierung des Bevölkerungsrückgangs geht von einer veralteten Vorstellung einer arbeitsintensi­ven Volkswirtschaft aus, in der die Alten aufgrund fehlender Kinder und Enkel nicht ernährt werden können. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt dabei weder die Tatsa­che, daß das Sozialprodukt und damit die Wohlfahrt der Gesellschaft mit einer kapitalintensi­ven Wirtschaftsform durch den Rationalisierungstrend immer weniger vom Faktor Arbeit abhän­gig ist, noch den Umstand, daß gegenwärtig nur mehr wenige hochspezialisierte Fach­kräfte eine Beschäftigung finden. Jede Produktionsinnovation steigert nicht nur die Produktivi­tät der Arbeit [77], sondern stellt Arbeitskräfte frei; eine Produktivitätssteigerung, wel­cher Form auch immer, produziert somit zwangsläufig immer wieder Massenarbeitslosigkeit, die nur sehr schwer und meistens erst durch andere gesellschaftliche Änderungen langfristig aufge­fangen werden kann. Das bedeutet bei gleichbleibenden gesellschaftlichen Bedingun­gen, daß diese angeblich „fehlenden Kinder“ keine künftigen Steuer- und Rentenzahler, son­dern ebenfalls zu finanzierenden Arbeitslosen bzw. Sozialhilfeempfänger darstellen.

      Mit dieser Entwicklung hängt auch ein anderer bedenklicher gesellschaftlicher Wandel zusam­men, der in der liberalen Kritik jedoch kaum oder nach einem schiefen Erklärungsmuster thematisiert wird: die Entstehung neuer Armut [78] und eine wachsende Polarisierung zwischen Arm und Reich mit den damit verbundenen desintegrativen Tendenzen in der Gesellschaft, also das Ge­genteil zum Trend, den manche Soziologen in den 60er Jahren als Tendenz zur „nivellieren­den Mittelstandsgesellschaft“ zu beobachten meinten. [79] Die Studien zur sog. „Gruppen­bezogenen Menschenfeindlichkeit“ aus den Jahren 2002-2004 haben dagegen eine desin­tegrative Tendenz in der Gesellschaft festgestellt, die durch Polarisierung zwischen Arm und Reich, zunehmende Arbeitslosigkeit und die negative Wahrnehmung der eigenen Lage verur­sacht wird und mit der steigenden Neigung zur sozialaggressiven Haltungen wie Rassis­mus, Ausländerhaß, Antisemitismus usw. einhergeht. [80] Diese desintegrativen Tendenzen (politi­sche Kontrollverluste, ungerichtete gesellschaftliche Prozesse und Unbeeinflußbarkeit öko­nomischer Entwicklungen) und ihre negative Wahrnehmung (soziale Unsicherheit, Gefühl der Orientierungslosigkeit) bezeichnete Wilhelm Heitmeyer als „Verstörungen“, aus denen sich menschenfeindliche Verhaltensweisen, Druck auf Minderheiten und die Neigung, schwa­che Gruppen abzuwerten, als Normalität entwickeln. [81]

      Es ist aber nicht nur die Verarmung und der daraus entstandene Bedrohungspotential. Über die allgemeine Verschlechterung des Umgangs der Menschen miteinander in der letzten Jahren – das sich ausbreitende asoziale Verhalten in allen Schichten – wurde inzwischen häufig berichtet. [82] Zum Teil ließe sich dieses Verhalten auf das propagierte Paradigma des fast sozialdarwinistisch geprägten „neuen Managements“ zurückführen mit dessen „Erfolgsdogma“ als einzigem Wert und den entsprechenden Schulungsmethoden in Selbstdarstellung und Durchsetzungsvermögen (z.B. Arroganztraining für Frauen). In der sozialwissenschaftlichen Forschung spricht man auch von „Paradigma der sozialen Exklusion“. Im Unterschied zur „Differenzierung“ der Gesellschaft in der Moderne handelt es sich um eine Art „Fragmentierung“, um Ab- und Ausgrenzung der Verlierer und gegenseitige Vergleichgültigung. Das Ergebnis ist die Spaltung der Gesellschaft in diejenigen, die dazugehö­ren, und diejenigen, die da sind, ohne dazuzugehören, das sog. „Prekariat“ – eine Katego­rie, die sich vom klassischen „Proletariat“ dadurch unterscheidet, daß die stets anwach­sende Zahl von Menschen in keinen oder prekären Beschäftigungsverhältnissen (etwa in Mini­jobs, Praktika, Leiharbeit, befristeten, niedrig entlohnten Tätigkeiten oder staatlich geförder­ten Beschäftigungsprogrammen) in der postmodernen Gesellschaft die „Überflüssi­gen“ sind. [83] Das Phänomen Armut nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in den reichsten Ländern der Welt wie Deutschland, ist somit wieder zu einem Thema geworden, worüber öfters berichtet und über dessen Beseitigung kontrovers diskutiert wird. [84] Man spricht in diesem Fall auch von „relativer Armut“ im Unterschied zur „absoluten“, die es hierzulande nicht oder nur ausnahmsweise gibt, als handle es sich um etwas Selbstverständliches. Zwar soll in Deutschland – im Unterschied zu dem allgemeinen Trend in der ganzen Welt – die Kluft zwischen Arm und Reich seit 2005 nicht mehr gewachsen sein, sie sei aber auch nicht kleiner geworden; man mag die Situation Deutschlands in bezug auf wirtschaftlich-soziale Verhältnisse in den letzten zehn Jahren je nach Sichtweise als Stabilität, oder auch als Stillstand werten. [85] Die Schieflagen, vor denen in den Jahrzehnten zuvor so gewarnt wurde, sind inzwischen zur Normalität geworden.

      Selbstverständlich und vielen einleuchtend scheinen auch die politischen Ablenkungsmanöver von eige­ner Unfähigkeit auf vermeintliche Katastrophen und Sündenböcke. So werden Schuldige für die Gebrechen der heutigen Gesellschaft, etwa die schlechte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Lage, ganz anderswo wahrgenommen, als wohin der ur­sächliche Zusammenhang hinweist, zum Beispiel auf die aufgeblähte, teure und alles lähmende Bürokratie, staatliche Verschwendung, Größen­wahn, Inkompetenz und Korruption der Führungskräfte, Macht- und Karrieresucht der Politik, oder auch auf strukturelle Deformationen der Märkte, die Vetternwirtschaft, Lobbyismus und Machtmißbrauch begünstigen, Konkurrenz und echte Reformen dagegen verhindern. Statt des­sen wird die Schuld im Mißbrach von sozialen Leistungen, in Kapitalflucht und Steuerhinter­ziehung (sog. Wirtschaftskriminalität), oder bei den Ausländern, die den Deutschen angeblich die Arbeit wegneh­men, sowie in Bil­liglöhnen im Ausland und in der Globalisierung allgemein gesucht. Das ist zwar nicht ganz falsch, wie der strukturelle Wandel der Wirtschaft in den letzten Jahren deutlich machte. Die Ursachen von Ar­beitslosigkeit und Armut wurden allerdings zunächst von den Forschern

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