Justus. Beatrice Lamshöft

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Justus - Beatrice Lamshöft

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denkt er, die am lautesten schreien und den Schnabel am weitesten aufreißen, werden zuerst gefüttert. Marie ist ein eher kleines Vögelchen zwischen all den Leuten. Statt zu schreien hebt sie den Arm und winkt wie in der Schule. Es dauert eine Weile, bis sie drankommt.

      Der Sensenmann, den er eben beobachtet hatte, plötzlich steht er direkt hinter Marie und rempelt sie an. Absichtlich, das ist nicht zu übersehen. Sie taumelt und wird von dem Kapuzenträger aufgefangen, der sich tausendmal entschuldigt. So ein Scheinheiliger. Blitzschnell greift er in ihre Manteltasche, ohne dass sie es bemerkt. Er zieht etwas heraus und macht sodann einen schnellen Abgang, läuft dabei direkt an Justus vorbei. Etwas fliegt durch die Luft, und er schnappt es auf. Es ist die verschmähte Diebesbeute, ein Päckchen Papiertaschentücher, sauber in Plastikfolie verpackt. Gevatter Tod hat wohl keine Verwendung dafür.

      Justus betrachtet das kleine Päckchen, überlegt, durch wie viele Hände es im Laufe seiner Existenz schon gegangen ist und wer die Frau war, die es gekauft hat. Oder hatte man es ihr geschenkt? Die Plastikfolie trägt den Aufdruck „Schlossapotheke“, also handelte es sich vielleicht um eines dieser kleinen Präsente, die ein Kunde ab einer bestimmten Summe erhielt, wenn er Medikamente kaufte. Man nahm sie an, ganz selbstverständlich, sagte Danke und weil man es eilig hatte, stopfte man es schnell irgendwo hinein, in die Manteltasche zum Beispiel.

      Die meisten Dinge, die durch unsere Hände gehen, denkt Justus, sie scheinen einfach vorhanden zu sein, tauchen in einem Moment auf und verschwinden dann wieder aus unserem Blickfeld, ganz beiläufig, ohne dass wir uns jemals Gedanken darüber machen. Papiertaschentücher, Bleistifte, Briefumschläge, Konservendosen, Batterien, WC-Reiniger, Plastikbeutel, Büroklammern, Busfahrkarten, Rasierklingen, die kleinen Zettel mit einer Nummer drauf, die man beim Straßenverkehrsamt ziehen muss, damit man sich ordnungsgemäß in die Reihe der Wartenden eingliedern kann, Zahnstocher, Druckknöpfe, Schuhputzbürsten, Schrauben, Nägel.

      Nägel! Er greift in seine Hosentasche. Da ist er! Er fühlt den krummen, verrosteten Nagel, den er auf dem Hochhausdach gefunden hat, dreht ihn in den Fingern, ertastet seine Form. Er ist ziemlich genau in der Mitte um ungefähr siebzig Grad gebogen. Seine Spitze ist stumpf, der Kopf flach, vielleicht drei Millimeter im Durchmesser. Die rostige Oberfläche fühlt sich rau an. Er schließt die Augen und versucht, sich den Nagel vorzustellen. Warum zum Teufel tut er das? Dieser alte krumme Nagel, er ist doch nur Müll. Ja, natürlich ist er Müll, so wie all diese vielen großen und kleinen Dinge, die einfach da sind, die man im Supermarkt oder sonst wo kaufen kann, die existieren, um uns eine Weile nützlich zu sein, bevor sie letztendlich alle dasselbe Schicksal ereilt – zu Müll zu werden.

      „Träumst du?“ Er öffnet die Augen. Marie steht vor ihm, die schmalen Augenbrauen hochgezogen, eine Haarsträhne im rechten Auge, die sie mit halb geöffnetem Mund so gekonnt nach oben pustet, als hätte sie es lange geübt. Hinter ihrem Rücken hält sie etwas versteckt. „Ich habe ein Geschenk für dich!“, sagt sie und holt es hervor. „Ein Herz! Ich habe dir ein Lebkuchenherz gekauft! Da, riech mal! Riecht es nicht wunderbar? Es riecht wie … Hmmm … wie Kindheit, Lose kaufen, Karussell fahren, Zuckerwatte essen und wie Weihnachten … irgendwie.“ Er schnuppert an seinem Herz, es ist riesig und hängt an einem weißen Band. Ja, in der Tat, es duftet ganz intensiv nach schönen Erinnerungen. Es macht ihn glücklich. Für einen kurzen Moment ist ihm sogar, als müsste er gleich vor Freude weinen, aber er kann die Tränen gerade noch zurückhalten. Marie lacht. „Hey, was ist denn mit dir? Das ist doch nur ein Herz!“

      Er nickt und beugt sich nach vorn, damit Marie es ihm um den Hals hängen kann.

      „Danke!“, sagt er. „Es ist wunderbar … und so groß! Und es ist mein erstes! Ich hab noch nie ein Lebkuchenherz geschenkt bekommen. Danke! Vielen Dank!“

      Er ist ein wenig verlegen, Marie anscheinend auch. Sie lachen. Er betrachtet die Aufschrift auf dem Lebkuchengebäck die schlicht MEIN HERZ lautet. Zuckersüße geschnörkelte Buchstaben mit blauen und roten Blümchen verziert. Vorsichtig rückt er das Band zurecht, damit das Herz auch schön gerade hängt. Dann weiß er auf einmal nicht mehr, wohin mit seinen Händen. Erst steckt er sie hinter seinen Rücken. Dann ergreift er Maries Kopf und küsst sie lange und leidenschaftlich. Als er sie anschließend anblickt, ist in ihren Augen so ein merkwürdiger Ausdruck, den er nicht recht zu deuten weiß. Dankbarkeit einerseits, aber da ist noch etwas anderes. Ist es Angst? Oder Traurigkeit?

      Sie nimmt seine Hände und faltet sie wie zum Gebet in ihre, küsst dabei jeden seiner Finger. Einen Moment hält sie inne und schließt kurz die Augen, als müsste sie sich auf etwas konzentrieren. Schließlich holt sie tief Luft, und im nächsten Augenblick ist sie wieder ganz bei ihm.

      „Ich soll dir noch sagen … Wenn du es essen möchtest, darfst du nicht zu lange warten. Sonst wird es steinhart, und irgendwann zerbröselt es, das … das hat der Verkäufer gesagt!“

      Er nickt. Er wird es nicht essen. Es wird mit ihm alt und steinhart werden und dann werden sie gemeinsam zerbröseln.

      Der Sensenmann taucht wieder auf. Allerdings hat er jetzt die Kapuze vom Kopf gezogen, sodass man seine strubbligen roten Haare sehen kann. In seinen Armen hält er einen großen Bund roter Rosen, die er für einen Euro das Stück anpreist. Mal beklaut er die Leute, dann spielt er den Rosenkavalier, denkt Justus. Wahrscheinlich hat er die Blumen auch irgendwo gestohlen, auf dem Wochenmarkt vielleicht. Man sollte ihn anzeigen. Oder nicht? Er winkt ihn zu sich heran.

      „Hey, junger Mann! Ich geb dir dreißig Euro, dafür bekomm ich den Strauß, was meinst du?“

      Der Sensenmann schüttelt den Kopf. „Das ist zu wenig! Er kostet fünfzig!“

      Nein, bestimmt keine fünfzig, es sind kaum fünfzig Rosen. Und außerdem hat Justus Anspruch auf einen Rabatt, wenn er alle auf einmal nimmt.

      „Das sind doch nicht mal fünfzig Stück. Ich geb dir fünfunddreißig und keinen Cent mehr! Also, kommen wir ins Geschäft?“

      Der Sensenmann schaut mächtig genervt auf den Boden, dann auf die Fahrgeschäfte. Die Art, wie er anschließend den Kopf auf die Seite legt und ihn angrinst, erinnert ihn an Jean Paul Belmondo in Cartouche, der Bandit. Frech und doch so charmant. Er hatte den Film mit Fredo angesehen, der ein Faible für alte Streifen wie diesen hatte. Wie lange war das her? Zehn Jahre? Länger?

      „Also gut“, sagt Belmondo. „Hab heute meinen großzügigen Tag!“

      Er drückt Justus den Strauß in die Hand, bekommt sein Geld, nickt kurz und schlendert davon. Wahrscheinlich warten noch andere Geschäfte auf ihn an diesem Abend.

      Marie hält lachend ihre Hände vors Gesicht. Dann nimmt sie die Blumen mit einem Kopfschütteln entgegen.

      „Du bist verrückt. Danke! Sie sind … fantastisch. So schön. Solche hab ich noch nie bekommen, mit so langen Stielen! Wow.“

      Sie legt den Strauß Rosen in ihren Arm und schaukelt sie wie ein kleines Baby.

      „Meine Dame, mein Herr, wie wäre es mit einem Andenken an diese wunderbare Nacht?“

      Sie drehen sich um und blicken in das grell geschminkte Gesicht eines Clowns – ein kleiner Mann mit kugelrundem Bauch, der wie ausgestopft wirkt, aber womöglich doch echt ist. Man möchte mit dem Finger reinpiksen und es herausfinden. Auf dem Kopf trägt er eine knallrote Perücke mit krausem Haar. Ein großer Pulk gasgefüllter Ballons ist an seinem Gürtel befestigt, Micky Mouse und Donald Duck, Giraffen, Löwen, dazwischen Sterne in allen Farben. Sanft schwebt die kleine Ballonherde am Nachthimmel hin und her. In der Hand des Clowns wartet eine Sofortbildkamera auf ihren Einsatz.

      „Warum nicht?“, sagt Marie. „Komm, lass uns ein Erinnerungsfoto

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