Justus. Beatrice Lamshöft
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Die Glocke hatte zur rechten Zeit geläutet. Noch eine Seite mit Bildern vielleicht, dann hätte der Großvater bestimmt einen Vorwand gefunden aufzuhören, was er damit begründet hätte, dass er seine Stimme schonen müsse, oder damit, dass er noch ein Telefonat führen müsse, oder es schlicht für den Moment genug sei und man später mal die anderen Bilder ansehen werde, was dann aber nie geschah.
Auf den Seiten, die folgten, das wusste Justus, waren die Fotos nicht mehr schwarz-weiß. Es waren farbige Aufnahmen, von seiner Mutter Juliana, als sie noch klein gewesen war, und von der Großmutter, die, als sie mit Tante Cordula hochschwanger gewesen war, an einer Lungenentzündung erkrankt und zwei Wochen nach der Geburt gestorben war. Der Verlust seiner Frau und seiner Tochter Juliana hätten dem Großvater das Herz gebrochen, das hatte Inge immer gesagt. Sie war die einzige gewesen, die es offen ausgesprochen hatte.
Mit der Firma war es in den Sechzigerjahren steil bergauf gegangen. Die Zahl der Mitarbeiter war binnen kurzer Zeit auf knapp dreihundert gestiegen und der Umsatz in die Höhe geschnellt. Man hatte in der Nähe von Nürnberg ein großes Gelände erworben und Produktionshallen erstellt. Der alte Bauernhof, in dem der Großvater geboren worden war, war nach und nach erweitert worden, indem man die ehemaligen Stallungen und späteren ersten Produktionsstätten zu Wohnraum umgebaut hatte. Irgendwann war so ein ansehnlicher Landsitz entstanden. Es war reichlich Platz vorhanden gewesen, um eine große Familie zu beherbergen, nur dass es zum Zeitpunkt der Fertigstellung schon gar keine Großfamilie mehr gegeben hatte.
Justus liebte es, die lange geschwungene Treppe ins Erdgeschoss hinunterzugehen und sich dabei vorzustellen, wie seine Vorfahren, die er von den Fotos kannte, es fünfzig Jahre zuvor ebenso getan hatten. Doch diese Vorstellung war nicht richtig, das hatte ihm Tante Cordula einmal klargemacht, und ihm dann erzählt, was alles in der Zeit geschehen war, in der die Fotos farbig wurden.
Nachdem die Firma Zimmermann und Söhne mit der Produktion einer eigenen Spielzeugserie begonnen und diese sich als ausgesprochen erfolgreich herausstellt hatte, waren in der Familie Begehrlichkeiten aufgekommen. Ein übler Streit war vom Zaun gebrochen, als Onkel Alois den Großvater bezichtigt hatte, ihn betrogen zu haben. Der Großvater hatte ihn zwar eingestellt und ihm ein sehr hohes Einkommen gezahlt, aber er hatte ihn angeblich nie an der Firma beteiligt. In Wirklichkeit war es jedoch so gewesen, dass der Großvater ihm in den Fünfzigerjahren ein Angebot unterbreitet hatte, Teilhaber zu werden. Das Risiko, dann aber auch für die Kredite geradestehen zu müssen, die der Großvater für die Finanzierung der Maschinen hatte aufnehmen müssen, war dem Onkel Alois allerdings zu groß gewesen, und er hatte das Angebot abgelehnt. Als sie dann einige Jahre später den großen Streit gehabt hatten, hatte er sich plötzlich nicht mehr daran erinnern können. Niemand aus Großmutters Familie konnte es. Und dann, 1966, war Onkel Alois plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Da war dem Großvater dann auch noch unterstellt worden, er habe seinen Onkel mit seiner Habgier ins Grab gebracht.
Es war zum Bruch in der Familie gekommen. Der Großvater hatte Onkel Alois‘ Witwe und seinen Nichten, also Tante Margarete und ihren Töchtern, eine große Summe Geld gezahlt, sodass sie finanziell abgesichert waren, aber die Verbitterung war geblieben. 1970 war im Rahmen von umfangreichen Umbaumaßnahmen die kleine Eingangshalle mit der großen geschwungenen Treppe entstanden, doch waren auf ihr kaum noch Verwandte hinauf- und hinuntergelaufen, weil nur noch selten jemand zu Besuch gekommen war, der nicht irgendwie in den Streit verwickelt gewesen war und sich auf die Seite des Großvaters geschlagen hatte.
Als die Fotos schwarz-weiß waren, ist die Welt irgendwie noch ganz anders gewesen, dachte Justus, während er seine Kopfkissen ordnete, um sich wieder hinzulegen. Zumindest die seiner Familie. Sicher, es hatte viele furchtbare Dinge gegeben, Kinder waren an Krankheiten und schrecklichen Unfällen gestorben und dann war auch noch der furchtbare Krieg gekommen. Aber alles war auch viel einfacher gewesen. Oder nicht? Geordneter irgendwie, und alle hatten zusammengehört. Die Frauen hatten alle Röcke getragen, die Männer hatten das Sagen gehabt, und jeden Tag war Hausmannskost auf den Tisch gekommen. Nur die Erziehung war nicht in Ordnung gewesen. Auf keinen Fall. Und eigentlich sollten die Männer auch nicht alles bestimmen, Frauen sollten genauso viel zu sagen haben. Und italienisches Essen war meistens ziemlich lecker. Und chinesisches auch.
Früher war alles schwarz-weiß und geordnet und heute ist alles bunt und durcheinander, dachte Justus, als er plötzlich merkte, wie unglaublich müde er war. Er schloss die Augen und schlief ein.
1. Mai 2012
„Ich habe heute Geburtstag“, sagt Justus, und es klingt beinahe wie eine Entschuldigung.
So war es nicht geplant, es hätte anders klingen sollen – vielleicht beiläufig oder harmlos fröhlich. Ironisch wäre nicht unpassend gewesen. Wenigstens drückt die Betonung keinerlei Erwartung aus. Er fragt sich, warum er es überhaupt erwähnt hat. Marie, die ihn immer noch im Arm hält, drückt ihn ganz fest an sich. Dann hebt sie den Kopf und lächelt ihn an.
„Herzlichen Glückwunsch! Der 1. Mai ist ein wunderschöner Tag, um Geburtstag zu haben!“
Er mochte es nicht, wenn man um diesen Tag viel Aufhebens machte. Und er hatte es immer als eine eher lästige Pflicht empfunden, an die Geburtstage seiner Familienmitglieder denken zu müssen, deren Zahl sich seit seiner Geburt kontinuierlich dezimiert hatte, sodass er – es fällt ihm nun auf –, sodass er sich jetzt tatsächlich an keinen einzigen mehr zu erinnern brauchte. Außer dem von Cordula natürlich, aber die war psychisch krank und dement, oder zumindest wirkte sie so, und vermutlich wusste sie selbst gar nicht mehr, an welchem Tag sie geboren worden war.
Nun jedoch hat er seinen Geburtstag erwähnt, aus welchem Grund auch immer, und er kann sich nicht beschweren, wenn Marie diese Information nicht einfach ignoriert. Sie greift in die Taschen ihres weißen Mantels und erforscht den Inhalt, befördert diverse Zettel, zwei Büroklammern und ein Päckchen Papiertaschentücher zutage. Die Art und Weise, wie sie die Sachen betrachtet, verrät ihm, dass sie in diesem Kleidungsstück nicht zu Hause ist. Es ist der Mantel einer anderen, die deutlich größer ist als sie selbst, das ist offensichtlich. Zwischen zwei verknitterten Kassenbons steckt ein dreimal gefalteter Fünfziger. Sie zieht die Augenbrauen hoch.
„Na so was!“
„Ich hoffe nicht, dass du jetzt vorhast, dich in Unkosten zu stürzen, ich meine, du wirst mir doch jetzt kein Geschenk kaufen, oder? Das ist nicht notwendig, Marie, wirklich nicht!“
„Nein!“, sagt sie, „das ist es nicht … Aber wahrscheinlich tue ich es trotzdem.“
Sie schaut sich um, und es hat den Anschein, dass sie sich nicht entscheiden kann, ob sie ihr Glück nun am Losbudenstand oder an der Schießbude versuchen soll, doch dann läuft sie schnurstracks zum Wagen mit dem Zuckerzeug herüber. Gebrannte Mandeln, aufgespießte Bananen und Trauben im Schokomantel, rot leuchtende Paradiesäpfel, dicke Waffeln mit einer schaumigen weiß-rosa gestreiften Füllung, Zuckerwatte und jede Menge Lebkuchenherzen in unterschiedlichen Größen. Buntes süßes Schlaraffenland. Als Kind hatte er oft davor gestanden und um eine Wolke am Stil gebettelt. Man hatte sie ihm immer verwehrt. Wolken hatten nun mal keinen großen Nährwert und von denen am Stil bekam man sofort schreckliche Löcher in den Zähnen, so zumindest hatte seine Tante es ihm immer suggeriert.
Vor dem Süßwarenstand