Justus. Beatrice Lamshöft

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Justus - Beatrice Lamshöft

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Clown wartet seine Antwort nicht ab, sondern drückt gleich auf den Auslöser.

      „Und … bitte lächeln! Und noch mal. So ist es schön.“

      Marie bezahlt ihn. Dann beobachten sie gemeinsam, wie aus dem Schwarz langsam zwei Bilder hervortreten, die ein Paar mit eingehakten Armen und aufgesetztem Fotolächeln zeigen. Er mit lässigem Dreitagebart, sie mit einem Strauß roter Rosen im Arm. Ihr großer weißer Mantel ist so lang, dass man ihn im ersten Moment für ein Brautkleid halten könnte, und der Blitz hat ihre Gesichter so hell ausgeleuchtet, dass sie vor dem dunklen Hintergrund ein wenig geisterhaft wirken. Zwei gelungene Aufnahmen, wenn Halloween wäre.

      Justus erinnert sich an das Hochzeitsfoto seiner Urgroßeltern. Die Braut trug ein schwarzes Kleid, und die Gesichter der Jungvermählten waren absolut ausdruckslos. Das krasse Gegenteil waren seine eigenen Hochzeitsfotos mit Susanne. Auf jedem zweiten war Elvis mit im Bild und grinste ungemein gekünstelt in die Kamera, wobei er stets die Arme in Richtung des Brautpaares ausbreitete, als präsentierte er das neueste Modell eines Spülmaschinenherstellers für ein Werbeplakat.

      Zuzeiten seiner Großeltern war die Ehe ein heiliges Sakrament gewesen, eine ernste Sache. Heute war sie eine Möglichkeit, eine romantische Idee, ein steuerlicher Vorteil. Und was für eine Sache war das mit ihm und Marie? Aus der Distanz betrachtet konnte man durchaus sagen, dass ihre Begegnung etwas Skurriles und Morbides an sich hatte. Insofern waren ihre beiden Sofortbildkameraaufnahmen vielleicht doch recht treffend.

      „Komm, gib mir die Fotos!“, sagt Marie.

      Eine klare Anweisung, der er sofort Folge leistet. Was wird sie tun?

      Sie zieht den Kuli aus ihrer Manteltasche und schreibt etwas auf die Rückseite eines der Bilder. Ihre Telefonnummer.

      „Und deine?“, fragt sie. „Ach was, am besten, du schreibst sie mir selbst auf!“

      Er nimmt das andere Foto und notiert nun seinerseits die Nummer, unter der er zu erreichen ist. Und seine Handynummer. Und die seines Büros. Außerdem seinen Namen und die vollständige Adresse. Die Mailadresse passt leider nicht mehr drauf.

      Sie tauschen die Fotos aus wie zwei Visitenkarten und fühlen sich dabei schon wieder ein wenig verlegen. Es gibt noch so viel zu sagen, so viel zu erklären, denkt er, aber im Moment geht es einfach nicht. Falscher Ort, falscher Zeitpunkt. Dieses Gefühl der Verlegenheit, es wird sich geben, es wird verschwinden, wenn sie sich erst näher kennengelernt haben. Jetzt ist es halt einfach ein bisschen merkwürdig. In einem Moment sind sie sich so nah, dass sie sich innig küssen, dann wieder kommt es ihm vor, als hätte man sie gerade erst einander vorgestellt. Wie zwei, die einander von jeher versprochen waren und sich am Tag der Hochzeit zum ersten Mal in die Augen sahen. Eine eigenartige Situation. Aber sie haben ja noch ihr ganzes Leben vor sich.

      Marie atmet tief ein, als bereitete sie sich auf einen großen Sprung vor. „Justus, würdest du den Alten fragen, ob er noch mal Der Mai ist gekommen auf dem Akkordeon für mich spielt? Ich würde es so gern noch einmal hören!“

      Ja, sicher, das kann er tun. Es ist immer gut, etwas zu tun zu haben, wenn Verlegenheit aufkommt.

      Sie stehen einige Meter von dem Feuer und der Tanzfläche entfernt, der alte Mann mit dem weißen Bart sitzt nicht mehr auf seinem Hocker. Justus sieht sich um, kann ihn nirgends ausmachen. Vielleicht ist er schon gegangen. Er spricht den Losbudenverkäufer an, ob er vielleicht wisse, wo der Alte zu finden sei. Doch weder er noch jemand anderes kann ihm weiterhelfen. Er dreht sich um, will zu Marie, um ihr die bedauerliche Nachricht mitzuteilen, doch sie ist verschwunden. Wo ist sie nur?, denkt er, sie kann doch nicht weg sein! Unschlüssig geht er ein paar Schritte in die eine, dann in die andere Richtung.

      Minuten vergehen, die sich rasch zu einer Ewigkeit ausdehnen. Sie ist weg, einfach weg, ohne sich zu verabschieden. Er kommt sich schrecklich verlassen vor – wie ein Fünfjähriger, der im Kaufhaus seine Mutter verloren hat. Gleich wird es eine Durchsage geben, die donnernden Boxen werden verkünden, dass Marie Justus sucht und er sich bitte am Stand des Losbudenverkäufers einfinden möge. Wie er sich freuen wird, wenn er sie wieder in die Arme nehmen kann.

      Keine Durchsage erklingt, natürlich nicht. Marie bleibt verschwunden. Aber sie hat ihn nicht wirklich verlassen, sonst hätte sie ihm ja nicht die Telefonnummer gegeben. Sie werden sich wiedersehen. Sie wird es ihm erklären. Alles wird sich finden.

      Oder nicht?

      Drei Jahre später, 18. Mai 1990

       Einsteins Relativitätstheorie, die mit Sicherheit niemand sonst im Klassenzimmer der 8a des Bad Windsheimer Gymnasiums begriff, einschließlich des Geschichtslehrers, der bestenfalls Jahreszahlen aufzählen konnte − Einsteins Geburt, Einsteins erste wissenschaftliche Veröffentlichung, wann er wo hingezogen war, der Tag seines Todes, Daten, die Ereignisse lediglich chronologisch sortierten, ohne jedoch deren Bedeutung zu erfassen −, diese vermaledeite Relativitätstheorie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Wenn man sich schnell genug vorwärtsbewegte, konnte man in die Zukunft reisen. Schneller als Licht sein, das war der springende Punkt. Es war schwierig, sich diesen physikalischen Vorgang vorzustellen. Umso verlockender waren die Möglichkeiten, die er eröffnete.

       Es gab also keine Zeit. Zeit war lediglich der irreführende Begriff für eine Welt in Bewegung, die man als einen kontinuierlichen Prozess der Veränderung wahrnahm. Die Zustände der Dinge wechselten, aus einem Spross entstand ein Baum, ein neues Auto rostete und wurde zu Schrott, und irgendwann würden auch seinem Geschichtslehrer Herrn Hermann die Haare und Zähne ausfallen, und er würde all diese dummen Daten vergessen, mit denen er seine Schüler regelmäßig quälte.

       Wann wurde Napoleon geboren? Wann krönte er sich zum Kaiser? Wann war Waterloo?

       Wann war diese grässliche Stunde endlich vorbei?

       Noch dreißig Minuten! Die Wahrnehmung von Zeit variierte, sie konnte sich zusammenziehen und unendlich ausdehnen und hing nicht allein von äußeren Umständen ab, ganz offensichtlich wurde sie auch von der inneren Einstellung beeinflusst. Justus hatte noch keine gute innere Einstellung zum Fach Geschichte entwickelt, das wurde ihm heute wieder bewusst. Er hasste diese Stunden, sehr zum Leidwesen seines Vaters, der als studierter Anthropologe, wie er sich selbst gern betitelte, großen Wert auf die Wurzeln der menschlichen Zivilisation legte.

       Wurzeln, Vergangenheit … Wen interessierte das? Was war mit der Zukunft? In Gedanken stieg er in ein Raumschiff, düste damit in rasender Geschwindigkeit um Mars, Venus und Merkur. Er überholte das Licht und kam im Jahr 2012 wieder auf die Erde zurück. 2012. Wie alt wäre er dann? Fünfunddreißig. Mein Gott, richtig alt! Wahrscheinlich würde er dann Direktor der Spielzeugfabrik sein. Wahrscheinlich würde er eine Frau haben und Kinder. Und er würde genauso geachtet und respektiert werden wie sein Großvater und sein Vater. Sein Weg war vorgezeichnet, niemand fragte ihn jemals danach, was er später einmal werden wollte. Er würde in die Fußstapfen seiner Vorfahren treten, das wurde nicht infrage gestellt. Heimlich aber träumte er davon, ein berühmter Astrophysiker zu sein und das Universum zu erforschen.

       Er schaute aus dem Fenster. Die roten Rosskastanien im Schulhof blühten. Nach diesem Schuljahr musste er noch fünf lange Jahre in dem alten Gemäuer mit seinen hohen Fenstern, dem quietschenden grauen PVC-Boden und den weiß getünchten Wänden, auf denen man keine Poster kleben durfte, ausharren. Poster waren bah! Poster in Klassenräumen, so was gab es laut seiner Lehrer nur in Hauptschulen.

       Nein, in diesem altehrwürdigen

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