Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein
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Mein Vater starb auf einer Geschäftsreise am Hitzschlage. Er hatte an einem heißen Julitage einen Wald zu besichtigen und mußte eine größere Strecke zu Fuß gehen. Ein Briefträger, der über Land ging, sah ihn von weitem liegen, nahm aber an, daß er sich zum Ausruhen hingelegt habe, und kümmerte sich nicht weiter darum. Erst als er ihn nach Stunden auf dem Rückweg noch an derselben Stelle sah, ging er hin und fand ihn tot. Meine Mutter wurde benachrichtigt und holte die Leiche nach Breslau. Der Ort, wo mein Vater starb, liegt zwischen Frauenwaldau und Goschütz. Nahe dabei ist eine Holzschneidemühle, in der oft die frisch geschlagenen Stämme für uns geschnitten wurden. Die braven Müllersleute haben in jenen schweren Tagen meiner Mutter beigestanden, und sie hat es ihnen nie vergessen. Wenn sie später selbst in dieser Gegend Wälder einkaufte und schlagen ließ, holte Herr Ludwig sie mit seinem Bauernwägelchen an der Bahnstation ab und begleitete sie oft auf ihren Wegen. Wenn unterwegs ein Wasser zu durchwaten war, trug er sie auf den Armen hinüber. Und seine gute Frau stärkte sie an heißen Sommertagen mit kühler Buttermilch und in bitterer Winterkälte mit heißem Kaffee. So ist eine Freundschaft fürs ganze Leben erwachsen. Meine Mutter schickte für die vielköpfige Familie Kleider und Kolonialwaren aus der Stadt. Dafür brachten Ludwigs, wenn sie nach Breslau kamen, Landbrot und Butter, frischen Weißkäse und manchmal einen Karpfen oder ein paar Schleien. Als die älteste Tochter heiratete, mußte unsere Familie bei der großen Bauernhochzeit vertreten sein. Besonders geehrt fühlten sie sich, als meine Mutter ihnen meine Schwester Erna und mich einmal für die ganzen Sommerferien anvertraute. Wir wurden in der „guten Stube“ untergebracht, wo die sauber gescheuerten Dielen mit weißem Sand bestreut waren, bekamen wie Herrschaften serviert, während die andern in der Küche alle aus einer Schüssel aßen, und genossen alle unbekannten Freuden des Landlebens: Kühe hüten, Garben binden, lebendige Fische mit der Hand aus dem klaren Bach holen. Es waren die schönsten Ferien während unserer ganzen Schulzeit.
4.
Zur Beerdigung meines Vaters kamen die Verwandten und berieten hinterher, was meine Mutter mit ihren sieben Kindern ohne alle Mittel nun anfangen sollte: natürlich das verschuldete Geschäft verkaufen, vielleicht eine größere Wohnung nehmen und möblierte Zimmer vermieten; was fehlte, würden die Brüder beisteuern. Meine Mutter schwieg zu allem und warf nur ihrer ältesten Tochter, die damals 17 Jahre alt war, einen vielsagenden Blick zu. Ihr Entschluß war gefaßt. Sie wollte sich selbst durchschlagen und von niemandem eine Unterstützung annehmen. Freilich verstand sie noch nicht viel vom Holzhandel, weil die vielen Kinder ihre ganze Zeit ausgefüllt hatten. Aber sie war eine Kaufmannstochter und besaß von Natur aus die spezifisch kaufmännische Begabung: sie konnte ausgezeichnet rechnen, sie besaß den richtigen Blick dafür, was ein „Geschäft“ ist, Mut und Entschlossenheit, um im rechten Augenblick zuzugreifen, und doch genügend Vorsicht, um nicht zu viel zu wagen; vor allem im höchsten Maß die Gabe, mit Menschen umzugehen. Materialkenntnis und das besondere Verfahren der Holzrechnung machte sie sich schnell zu eigen. Und ganz allmählich, Schritt für Schritt, gelang es ihr, sich emporzuarbeiten. Es war schon nicht einfach, sieben Kinder satt zu bekommen und zu bekleiden. Wir haben nie gehungert, aber an größte Einfachheit und Sparsamkeit sind wir gewöhnt worden, und etwas davon ist uns bis heute geblieben. Ich bin in den Kreisen, in denen ich später verkehrte, immer wieder durch wenig standesgemäßes Auftreten aufgefallen; und obwohl mir dies, wie jedes Aufsehen, peinlich war, ist es mir doch nie gelungen, mich wesentlich zu bessern.
Es genügte meiner Mutter nicht, das Nötigste für den täglichen Bedarf zu beschaffen. Zunächst hatte sie sich eine große Aufgabe gestellt: niemand sollte meinem toten Vater nachsagen, daß er seine Schulden nicht gezahlt hätte; sie wurden nach und nach bis zum letzten Pfennig abgetragen. Dann galt es, den Kindern eine gute Ausbildung zu geben. Mein Bruder Paul war 21 Jahre alt, als mein Vater starb. Er hatte das Gymnasium bis Prima besucht, aber zum Universitätsstudium langten die Mittel nicht. Vielleicht hätte man doch einen Weg gefunden, wenn er darauf bestanden hätte. Aber es war nicht seine Art, „sich durchzusetzen“. Weil er ein leidenschaftlicher Bücherwurm war, gab man ihn als Lehrling in eine Buchhandlung. Aber er ist nicht dabei geblieben. Meine Mutter mußte darauf hinarbeiten, Hilfe ins Geschäft zu bekommen. Es ist mir immer als sehr charakteristisch erschienen, daß sie niemals Buchführung erlernt und ihre Bücher geführt hat. Sie verhandelte mit Kunden: meist Tischlern, Stellmachern, Holzbildhauern, Bauunternehmungen, und mit Lieferanten: Großhändlern, Großgrundbesitzern, polnischen Juden, die als Zwischenhändler kamen; sie maß und verrechnete Bretter, und wenn eine Wagenladung schnell abgeladen werden mußte, so kletterte sie gern auf den Wagen und schob mit den Arbeitern um die Wette schwere Bohlen hinunter.
Aber die trockene Büroarbeit lag ihr nicht. (Auch mir hat sie immer widerstanden, wie keine andere Beschäftigung). Längere Zeit hat ihr Schwager und Onkel Jakob Burkhard für sie die Bücher geführt. (Er war der Bruder meiner Großmutter und hatte seine Nichte Cilia geheiratet). Dann tat es mein Bruder Paul, bis er seinem jüngeren Bruder Platz machte. Er selbst fand Unterkunft in einem Bankgeschäft; er ist jahrzehntelang Bankbeamter gewesen und hat seinen Posten mit übergroßer Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit ausgefüllt, ohne je die verdiente Anerkennung zu finden. Für die wenig befriedigende Berufsarbeit entschädigte er sich in seinen nur zu knappen freien Stunden durch Bücher, Musik und Wanderungen. Seit einigen Jahren ist er mit einem bescheidenen Ruhegehalt pensioniert, und ich habe den Eindruck, daß er sich dabei wohler fühlt als je in seinem Leben. (Wenn ich auf diesen Blättern manches niederschreiben muß, was meinen lieben Geschwistern als Kritik ihrer Schwächen erscheinen mag, so werden sie mir das verzeihen. Man kann das Leben einer Mutter nicht schildern, ohne auf das einzugehen, was sie mit ihren Kindern erlebt und durch sie gelitten hat. Wenn ich schließlich selbst an die Reihe komme, werde ich mit mir nicht glimpflicher verfahren als mit den andern).
Meine Schwester Else hätte die Stütze meiner Mutter sein und ihr den Haushalt abnehmen sollen. Sie war aber sehr gut begabt und hatte beschlossen, Lehrerin zu werden (der einzige höhere Bildungsweg, der damals für Mädchen offen stand). Meine Mutter gab ihr schließlich die Erlaubnis, das Seminar zu besuchen. Trotzdem mußte sie sich um die Wirtschaft und die kleinen Geschwister kümmern, bis die jüngeren Schwestern so weit waren, die Pflichten zu übernehmen. Sie führte das häusliche Regiment mit großer Strenge und äußerster Sparsamkeit, sodaß alle etwas unter diesem Joch seufzten. Nur ich machte eine Ausnahme, weil ich, als ein kleines Kind, noch mit Kosenamen und Zärtlichkeiten verwöhnt wurde; auf diese Auszeichnung war ich sehr stolz und hing mit großer Liebe an meiner schönen Schwester. Meine Mutter hat manchmal gesagt, jedes ihrer Kinder gebe ihr besondere Rätsel auf. Ihre Älteste war als ein ungewöhnlich schönes, begabtes und vielseitig interessiertes Mädchen stets umschwärmt von Verehrern beiderlei Geschlechts.
So kam sie dazu, sich für etwas Besseres zu halten als ihre Umgebung, sah auf die Geschwister als auf minder ausgezeichnete Menschen etwas herab und war zu Hause niemals zufrieden. Sie war oft lange Zeit als Gast bei auswärtigen Verwandten — manchmal zur Pflege von Kranken, denn sobald irgendwo in der weitverzweigten Verwandtschaft eine Hilfe nötig war, schickte meine Mutter eine ihrer Töchter hin; manchmal auch nur zur Abwechslung. Einigemale nahm sie auch Erzieherinnenstellen in der Provinz an. Aber sobald sie fern von der Familie war, sehnte sie sich noch viel mehr zurück als sie sich vorher fortgesehnt hatte. Diese Unruhe hat sie niemals verlassen, auch nicht, seit sie eigene Familie hat; beinahe hätte ihre Ehe daran Schiffbruch gelitten. Schon bald nach der Hochzeit begann der Jammer darüber, daß sie von den Ihren getrennt sei; am liebsten hätte sie immer jemanden von den Geschwistern bei sich gehabt. Auch jeder entfernte Verwandte, ja jeder Fremde der nur irgendwelche Beziehungen zur Heimat hat, ist ihr ein hochwillkommener Gast. Die Mutter bedeutet für sie das höchste Ideal und sie hat auch ihren Kindern eine herzliche Liebe zur Großmutter und allen Angehörigen eingepflanzt. Sie spart das ganze Jahr,