Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein

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ehe sie wieder mit uns sprach. Wie sie äußerlich auf sich hielt, ihre Kleider sorgfältig schonte und immer in Ordnung hatte, so war sie streng auf moralische Sauberkeit bedacht. Es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Tugendstreben einen Anstrich von Selbstgerechtigkeit hatte und daß sie zu scharfen Urteilen über andere neigte. Als Einzige aus der Familie hat sie ein Tagebuch geführt. Ihr stilles und gleichförmiges Leben hat eine kurze, an harten Erfahrungen reiche Unterbrechung gefunden, als sie sich entschloß zu heiraten.

      Meine Schwestern Frieda und Rosa kamen wenig mit Menschen außerhalb des Verwandtenkreises zusammen. Da Frieda sich nach einer eigenen Häuslichkeit sehnte, ließ sie sich zu einer „vermittelten Partie“ bestimmen. Ich war damals noch Gymnasiastin. Aber nach dem ersten Besuch des Bewerbers wandte ich meine ganze Beredsamkeit auf, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Auch unsere Verwandten rieten entschieden ab. Aber meine Schwester war nicht mehr umzustimmen, und selbst meine kluge Mutter ließ damals den klaren Blick durch ihre Wünsche trüben. Der Bräutigam war Witwer und hatte zwei schon ziemlich große Kinder. Meine Schwester freute sich darauf, ihnen Mutter zu sein, und auch sie kamen ihr freundlich entgegen. Den Anlaß zur Trennung gaben die wirtschaftlichen Verhältnisse. Frieda erkannte sehr bald, nachdem sie die Führung des Haushalts übernommen hatte, daß er auf unsolider Basis stand. Sie wollte gern mitarbeiten und mit der bescheidensten Lebenshaltung zufrieden sein; aber von fremdem Geld zu leben, wie ihr Mann und seine Kinder es gewohnt waren, darein konnte sie sich nicht finden, und so verlor sie alles Vertrauen zu ihm. Mit ihrem sechs Monate alten Kinde kehrte sie in unser Haus zurück und mußte noch einen überaus peinlichen Scheidungsprozeß durchmachen, ehe sie frei war. Nach den strengen Anschauungen, in denen wir erzogen waren, empfanden wir eine Scheidung als Schande. Aber meine Mutter ließ meine Schwester nichts davon spüren. Sie nahm sie auf, wie eine Henne ein verirrtes Küchlein wieder unter ihre Flügel nimmt, und suchte ihr durch verdoppelte Liebe über die schwere Zeit hinwegzuhelfen. Die kleine Erika, die zu früh geboren und sehr schwächlich war, begann sich in der großmütterlichen Pflege bald gut zu entwickeln. Sie ist heute ein kräftiges Mädchen, das uns allen über den Kopf gewachsen ist.

      Meine Schwester Rosa ist nur 2 Jahre und 2 Tage jünger als Frieda. Die beiden wurden wie ein Zwillingspaar behandelt. So bildeten wir Geschwister drei Paare: „die Jungen“, „die Mädel“ und „die Kinder“; nur Else stand allein. Es waren sehr ungleiche Paare.

      Rosa hieß mit ihrem Spitznamen „der Leu“. Das kam von dem lauten Wutgebrüll, das sie anstimmte, wenn sie gereizt wurde. Sie war am schwersten von allen Kindern zu erziehen. Obgleich sie durchaus nicht schlecht begabt war, war sie immer eine schlechte Schülerin. Die ungezogensten Jungen aus dem Haus und der Nachbarschaft waren ihre besten Freunde. Mit ihnen zog sie durch die Straßen, riß an allen Doktorklingeln und verübte ähnliche Bubenstreiche. Es gab immer jemanden, an dem sie mit leidenschaftlicher Schwärmerei hing. Als Backfisch stellte sie einmal selbst eine lange Liste von „Flammen“ auf, für die sie zu gleicher Zeit schwärmte: Lehrerinnen, Schauspielerinnen, Verwandte. Später war es immer nur eine Person, die ihr Herz ausfüllte. Der Gegenstand ihrer Verehrung erschien ihr als vollkommenes Ideal, als Inbegriff alles Guten; sie konnte sich nicht genug tun in Liebesbeweisen und vernachlässigte darüber die andern Menschen. Dabei waren es meist Menschen mit recht handgreiflichen Schwächen, die von dem Ideal weit entfernt waren und sich auch in einer solchen Rolle sehr merkwürdig vorkamen. Riß dann der rosige Schleier, so war die Ernüchterung um so größer, und die Entthronten mußten sich nun eine um so schärfere Kritik gefallen lassen.

      Da Rosa keine besondere Neigung zu einem Beruf zeigte, wurde beschlossen, daß sie gründlich die Hausarbeit erlernen sollte, um später den mütterlichen Haushalt zu führen. Zur Ausbildung wurde sie zu den Tanten nach Lublinitz geschickt, um dort in einem musterhaft geleiteten Hause in alle Arbeiten eingeführt zu werden. Das Jahr, das sie dort zubrachte, ist ein sehr glückliches für sie gewesen, und sie hat es immer in dankbarer Erinnerung behalten. In der lustigen Gesellschaft der beiden Hausfrauen, unserer Tante Clara und ihrer Schwägerin Else, fühlte sie sich so wohl wie früher beim Spiel mit den Gassenjungen. Sie schloß sich aber auch an die ernste Tante Mika an und nahm erzieherische Anregungen von ihr dankbar und leichter als zu Hause an. Als sie dann unsern Haushalt übernahm, bekam er einen andern Zuschnitt als früher. Rein äußerlich wurde das dadurch ermöglicht, daß unsere wirtschaftliche Lage sich wesentlich gebessert hatte. Es entsprach aber auch ihrer Natur. Während die beiden älteren Schwestern immer mit äußerster Sparsamkeit wirtschafteten, war es ihr ein Bedürfnis, reichlicher zu geben. Sie selbst hatte als Kind gern genascht und war als junges Mädchen übermäßig stark; später war sie für ihre Person mehr als genügsam, und von der früheren Fülle blieb keine Spur übrig. Es freute sie, wenn es uns schmeckte, und sie dachte sich gern von Zeit zu Zeit neue Leckerbissen aus. Ihre selbstgebackenen Kuchen sind allmählich in der ganzen Verwandtschaft und Bekanntschaft berühmt geworden.

      Weil ich immer etwas blaß und blutarm war, wurde ich mit besonderer Fürsorge betreut. Wenn ich mit ihr in die Stadt ging, um Besorgungen zu machen, unterließ sie es selten, mit mir in eine kleine Konditorei zu gehen und mir ein Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne geben zu lassen, oder im Sommer ein Glas Eis mit Schlagsahne. Ich bat nie darum; aber wenn wir in die Nähe unseres Stammlokals kamen (die Konditorei von Illgen in der Schmiedebrücke, wo es solche Herrlichkeiten für 15 Pfennig gab), schielte ich unwillkürlich etwas nach dem Schaufenster hin, und dann wandte sie sich wortlos dem Eingang zu. Eine besondere Liebe hatte sie zu kleinen Kindern; viele kleine Vettern und Cousinen, später Neffen und Nichten, sind in den ersten Lebenswochen und -jahren von ihr mit betreut worden. Mit größeren Kindern verstand sie es weniger gut. Sie redete dann zu viel über alle kleinen Unarten; das kühlte die kindliche Liebe ab, ohne ihr den nötigen Respekt zu verschaffen. Sie hat dadurch viel weniger Dank geerntet als sie wirklich verdiente.

      In den letzten Jahren hat sie mit Freude Abendkurse der Volkshochschule, literarische und kunstgeschichtliche, besucht und mit großem Eifer darin mitgearbeitet. Sie hat allmählich auch einen Kreis von Menschen gefunden, mit denen sie freundschaftlich verkehrt und die sie hochschätzen. Vor allem aber hat ihre religiöse Entwicklung ihr eine Welt erschlossen, die es ihr ermöglicht, auf alle äußere Befriedigung zu verzichten und still an ihrem Platz auszuharren. Darüber werde ich später noch mehr sagen müssen.

       5.

      Während die älteren Geschwister ziemlich dicht aufeinander folgten, sind wir Jüngsten „nachgeboren“. Zwischen Rosa und Erna ist ein Abstand von 6 Jahren: wir beide sind nur um ein Jahr und 8 Monate auseinander. Wir sind in der Zeit des Aufstiegs unserer Familie herangewachsen. Es wurde in unsern Kinderjahren in Wohnung, Nahrung und Kleidung noch die größte Einfachheit gewahrt, aber wir hatten nicht das Gefühl, arm zu sein. Wir sahen, daß unsere Mutter von morgens bis abends schwer arbeitete, und darum war es uns selbstverständlich, keine unbescheidenen Wünsche zu äußern. Meine Mutter sorgte von selbst dafür, daß wir hinter andern Kindern nicht zurückstehen mußten. Wir sind zeitweise drei auf einmal in dieselbe Schule gegangen, und für das dritte Kind hätte kein Schulgeld gezahlt werden müssen. Aber das nahm meine Mutter nicht an. Es wäre ihr als „öffentliche Armenunterstützung“ erschienen, und davon wollte sie nichts wissen. Noch heute kann sie es sich nur mit einem Mangel an Ehrgefühl erklären, wenn Leute „stempeln gehen“. Wir durften uns nie von einem Schulausflug, nie von einer Sammlung ausschließen. Dagegen wurde an Schulbüchern gespart; wir bekamen sie zu unserm Leidwesen nur im äußersten Notfall neu gekauft, sonst mußten wir sie von älteren Vettern und Cousinen leihen. Meine Mutter duldete es nicht, wenn wir nach Schülerart in unehrerbietiger Weise von unsern Lehrern sprachen. Wir hatten Gesang- und Schönschreibunterricht — in den Vorschulklassen auch Rechnen und Naturkunde — bei einem alten Volksschullehrer, der zu allem andern als zum Erziehen geboren war. In seiner Jugend mußte er ein schöner Mann gewesen sein, später war er unförmig dick. Er war sehr gutmütig, aber jähzornig. Während der Stunde regnete es Tadel und andere Strafen, aber sobald es zur Pause läutete, wurde alles wieder erlassen. In der Tasche hatte er immer eine Schnupftabakdose und eine Bonbontüte, die abwechselnd hervorgezogen und benützt wurden. Es gab für uns keinen größeren Schrecken, als wenn wir aus

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