Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein

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Interessen. Leichte Unterhaltungsbücher las sie gern, wie das Lesen in unserer Familie überhaupt eine große Rolle spielte; nach schwerer Kost hatte sie kaum Verlangen.

      Als sie in der 1. Klasse der höheren Mädchenschule war, äußerte sie den Wunsch, danach in das Mädchenrealgymnasium überzugehen, das seit einigen Jahren darauf aufgebaut war; er wurde ihr ohne weiteres gewährt. Sie war damals noch nicht für ein bestimmtes Studium entschieden. Ich hatte den Eindruck, daß es ihr überhaupt noch nicht um einen Beruf zu tun war; sie wollte gern noch länger in der gewohnten und lieben Umgebung bleiben, der Entschluß einer Freundin wirkte wohl auch etwas mit. Es war aber bei der ganzen Einstellung unserer Familie selbstverständlich, daß der Gymnasialbesuch keine Luxusangelegenheit sein konnte, sondern Vorbereitung auf ein ernstes Berufsstudium. Da sie neue Sprachen gern und leicht lernte, dachte sie am ehesten an das Philologiestudium. Ich hatte schon mit 6 Jahren, als unsere Schwester Else das Lehrerinnenexamen machte, erklärt, ich wollte auch Lehrerin werden. So malten sich unsere Verwandten gern aus, wie wir später einmal gemeinsam unsern Beruf ausüben würden. Aber es sollte anders kommen. Als Erna ihr Abitur gemacht hatte, lud unser Onkel David, ein Bruder meiner Mutter, sie für ihre „Muluszeit“ zu sich ein und mich zur Gesellschaft mit. Es waren herrliche Ferien in dem großen Apothekershaus in Chemnitz. Meine Tante war das einzige Kind sehr wohlhabender Eltern und verstand es, ein großes Haus zu führen, sich mit erlesenem Geschmack zu kleiden und für gesellige Freuden zu sorgen. Da sie selbst keine Töchter hatte, fand sie einen besonderen Reiz darin, die jungen Nichten wenigstens für die Dauer des Besuchs in elegante Damen zu verwandeln. Die Freunde des Hauses bemühten sich um die Wette, uns zu erfreuen: Kahnfahrten, Autopartien, Theaterbesuche und Abendeinladungen wechselten einander ab. Aber unser guter Onkel hatte noch eine ernstere Absicht. Nach seiner Auffassung war für uns das Medizinstudium das einzig sinnvolle. Er wollte uns beide für den ärztlichen Beruf gewinnen und sah uns schon im Geist in einer gemeinsamen Privatklinik mit verschiedenen Spezialfächern einander in die Hände arbeiten. Da ich noch 2 Jahre Zeit hatte bis zum Beginn des Studiums, beschränkte er sich vorläufig darauf, meine Schwester in vertraulichen Unterredungen zu bearbeiten. Jeden Abend, wenn wir in unserem gemeinsamen Schlafzimmer allein waren, sagte ich: „Laß Dich nicht beeinflussen; tu, was Du selbst für das Richtige hältst“. Und sie versicherte, daß sie festbleiben werde. Aber meine Ferien gingen schneller zu Ende als die ihren, und sie blieb nach meiner Abreise noch einige Wochen zurück. Kurz vor ihrer Heimkehr schrieb sie an meine Mutter, es sei ihr Wunsch, Medizin zu studieren und sie bäte um die mütterliche Einwilligung. Meine Mutter stimmte zu, weil sie uns gerade in dieser Frage frei entscheiden lassen wollte. Ich glaube nicht, daß Erna ihre Wahl je bereut hat. Sie hat das anstrengende Studium, zeitweise unter mancherlei körperlichen Beschwerden, zu Ende geführt und ihren Beruf gründlich erlernt. Wenn ich ihr später manchmal in der Sprechstunde half, sah ich mit stiller Freude, mit welcher Ruhe und Sicherheit sie ihn ausübte — einer Ruhe und Sicherheit, wie sie ihr im persönlichen Leben keineswegs im selben Maß eigen war. Ich habe hier zum ersten Mal den Wert einer festen Lehrtradition erfahren. — Als ich 2 Jahre nach meiner Schwester die Reifeprüfung bestand, wurde ich wiederum liebevoll nach Chemnitz eingeladen. Ich sagte mit freudigem Dank zu, fügte aber sogleich bei, meine Berufswahl sei getroffen und stünde nicht mehr zur Diskussion. Vor dieser Erklärung streckte mein Onkel die Waffen. Er machte nicht den mindesten Versuch, mich umzustimmen. Zu meiner Schwester äußerte er einige Monate später, vielleicht werde er als alter Mann einmal vor mir den Hut abnehmen müssen, aber vorläufig habe er für eine Berufswahl rein nach persönlicher Anlage und Neigung kein Verständnis.

      Ich bin mit dieser Erzählung den Ereignissen weit vorausgeeilt, aber diese Tatsachen schienen mir besonders kennzeichnend für uns beide. In unserer Kindheit spielte die Schule eine große Rolle. Ich glaube fast, daß ich mich dort heimischer fühlte als zu Hause. Unser Schulhaus auf dem Ritterplatz war ein ehemals Schaffgotsch’sches Palais, moderner Schulhygiene wenig entsprechend, aber mit romantischen Ecken und Winkeln. Gegenüber lag das schöne Kloster der Ursulinen; auf dem freien Platz davor, unter den hohen, alten Bäumen durften wir um 10 Uhr, in der „großen Pause“, Spazierengehen. Der gestrenge Herr Direktor (im Schülerjargon „Rex“ genannt), die Lehrer und Lehrerinnen kannten schon unsere älteren Schwestern und von den An- und Abmeldungsbesuchen meine Mutter. Und auch wir waren durch die Erzählungen der älteren Geschwister schon mit der Schule vertraut und verwachsen, ehe wir noch hineinkamen. Die Klassengefährtinnen schließlich teilten mit uns die Freuden und Leiden des Schullebens, die ja die Erwachsenen doch in ihrer Bedeutung nicht mehr fassen können: die Spannung vor den wöchentlichen „Klassenarbeiten“ und die bange Erwartung der Rückgabe; und dann die großen Ereignisse des Schuljahres: die Trimesterzeugnisse und die Versetzung. Am Ende des Schuljahres wurden alle Klassen in der großen Aula versammelt. Es gab eine Schlußandacht, und der Direktor verlas die Liste der „Versetzten“, von der untersten Klasse angefangen, für jede in der Reihenfolge der Klassenplätze, sodaß man hier zugleich erfuhr, ob man „herauf-“ oder „heruntergekommen“ war. Schließlich wurde aus jeder Klasse eine der besten Schülerinnen vorgerufen und empfing aus der Hand des Direktors eine Prämie. Es war für mich immer ein sehr peinlicher Moment, wenn ich zwischen den dichtgedrängten Reihen der Schülerinnen hindurchgehen mußte bis ganz vorn hin vor das Podium, auf dem das versammelte Lehrerkollegium saß; wenn alle Augen von vorn und von hinten sich auf einen richteten, während der Direktor einige freundliche Worte sprach.

      Ich legte auch auf die Prämie weniger Wert als auf den Klassenplatz, so sehr ich mich über jedes neue Buch freute. Meine Schwestern, Cousinen und Freundinnen aber begrüßten mich mit freudigem Stolz, wenn ich wieder in der Menge untertauchen durfte. Auch das Vorzeigen der Zeugnisse zu Hause erweckte in mir gemischte Gefühle. Mutter und Geschwister begrüßten die guten Noten mit lebhafter Freude und beschenkten uns dafür; aber ich mochte es nicht, daß so viel Wesens davon gemacht wurde und daß alle Verwandten und Bekannten davon erzählt bekamen.

      Für unsere Schularbeiten brauchten wir nicht viel Zeit. Die freien Stunden brachten wir im Sommer meist auf dem Holzplatz zu, im Winter mit Spielen im Hause. An Gesellschaft fehlte es nicht: Schulfreundinnen, Kinder aus dem Haus, vor allem auch unsere vielen Vettern und Cousinen. Eine Schwester meiner Mutter hatte, wie sie selbst, 5 Töchter und 2 Söhne (nur daß die Söhne hier die Jüngsten waren); die Jüngste war nur wenige Monate älter als ich und kam in meine Klasse, als die Familie von Lublinitz nach Breslau zog. Wir waren nach Temperament und Neigungen denkbar verschieden, hielten aber gute Kameradschaft. Mit rührender Gutherzigkeit freute sie sich an meinen Schulerfolgen. Sie hatte schwarzes, wolliges Negerhaar und große, schwarze Augen, war ein kleines Sprühteufelchen und fing gern Streit an. Ich sagte dann wohl, ich wollte nicht streiten, beharrte aber in aller Ruhe auf meinem Standpunkt; ich erinnere mich, daß sie einmal ganz erregt sagte: „Laß mich doch auch einmal Recht haben!“ Solche kleine Szenen störten aber die Anhänglichkeit nicht. Wenn wir in größerer Zahl zusammen waren (z.B. an den Familien-Geburtstagen, bei denen die Kinder immer in einem besonderen Zimmer ihre Kaffeetafel hatten), spielten wir gern Schule oder Gesellschaftsspiele. Beim Auslösen der Pfänder bildeten den Höhepunkt „drei Fragen auf Ehre und Gewissen“. Wer sie gestellt bekam, mußte zuerst hinausgehen, während die andern mit glühendem Eifer berieten, was sie fragen wollten. Mit Herzklopfen kam man zurück, wenn man gerufen wurde: man mußte ja „auf Ehre und Gewissen“ wahrheitsgetreu antworten, und wußte doch, daß man jetzt auf Herz und Nieren geprüft wurde. Beliebte Fragen waren, wen man von seinen Geschwistern am liebsten hätte, wem von den Erwachsenen man ähnlich werden wollte. Es war das Verlangen, in die Geheimnisse des menschlichen Herzens einzudringen, das sich in diesem kindlichen Spiel geltend machte; und wenn die Antwort auf solche Fragen manchmal schwer fiel, so fühlte man sich doch auch merkwürdig erhoben bei diesem Hinabsteigen in die eigenen Tiefen. In der Dunkelstunde erzählten wir uns gern gruselige Geschichten. Manchmal gelang es mir auch, die andern zum Theaterspielen zu begeistern. Die Handlung dachte ich mir im Augenblick selbst aus; gelegentlich schrieb ich wohl auch so ein „Drama“ auf.

      Unsere täglichen Kameraden, von uns fast so unzertrennlich wie wir beide voneinander, waren während vieler Jahre zwei Vettern, Zwillinge, die aus ihrer oberschlesischen Heimat nach Breslau geschickt wurden, um das Gymnasium zu besuchen. Sie waren mehrere Jahre älter als wir und standen im 12. Jahr, als

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