Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein
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Читать онлайн книгу Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein страница 13
In meinen Träumen sah ich immer eine glänzende Zukunft vor mir. Ich träumte von Glück und von Ruhm, denn ich war überzeugt, daß ich zu etwas Großem bestimmt sei und in die engen, bürgerlichen Verhältnisse, in denen ich geboren war, gar nicht hineingehörte. Von solchen Träumen sprach ich ebenso wenig wie von den Beängstigungen, die mich früher gequält hatten. Man merkte nur, daß ich verträumt war, und schreckte mich oft auf, wenn ich nicht merkte, was um mich herum vorging. Für diese wuchernde Phantasie war es gut, daß ich früh zur Schule kam und daß der lebhafte Geist solide Nahrung bekam. Als Erna mit 6 Jahren anfing, in die Schule zu gehen, und ich nicht mit durfte, war ich sehr unglücklich. Weil ich nun zu Hause keine Gesellschaft mehr hatte, wurde ich in einem Kindergarten angemeldet. Das hielt ich für tief unter meiner Würde. Es kostete jeden Morgen einen heftigen Kampf, mich hinzubringen. Ich war unliebenswürdig gegen die andern Kinder und schwer zum Mitspielen zu bewegen. Meine Geschwister hatten abwechselnd die unangenehme Aufgabe, mich hinzuführen. Einmal war mein ältester Bruder an der Reihe. Als wir zum Haus herauskamen, merkte ich, daß es etwas regnete. Ich erklärte sofort, ich könnte auf dem nassen Boden nicht gehen, ich wollte umkehren oder er sollte mich tragen. Der gute Paul nahm mich sofort auf den Arm und trug mich den ganzen Weg. Mittags erklärte mir meine Mutter, ein so großes Mädchen müßte sich doch schämen, sich tragen zu lassen. Ob ich mich wenigstens bedankt hätte? Sonst sollte ich das jetzt nachholen. Das kostete wieder schwere Überwindung. Denn mein großer Bruder pflegte alles zu tun, was ich wollte, ohne Bitte und Dank zu beanspruchen. Er konnte mich stundenlang auf seinen Schultern im Zimmer herumtragen, während ich mich an seinen Haaren festhielt; dazu sang er mir unermüdlich Studenten- und Volkslieder vor. Zu seinem und meinem Vergnügen zeigte er mir oft die Bilder in seiner großen Literaturgeschichte und fragte mich, wen oder was sie vorstellten; und in seinem Eifer hielt er dabei die Unterschriften zu, obgleich ich noch nicht lesen konnte.
Als mein 6. Geburtstag herannahte, beschloß ich, dem verhaßten Kindergartendasein ein Ende zu machen. Ich erklärte, daß ich von diesem Tage an unbedingt in die „große Schule“ gehen wollte, und wünschte mir das als einziges Geburtstagsgeschenk; jedenfalls wollte ich ohne dieses keine andern annehmen. Es traf sich, daß in diesem Jahr die Schule nach den Herbstferien am 12. Oktober wieder begann. Immerhin war es nicht ganz einfach, meinen Willen durchzusetzen; denn das Schuljahr lief schon seit Ostern, und ich konnte zwar große Balladen aufsagen und mit meinen Geschwistern „Dichterquartett“ spielen, weil ich alles auswendig wußte, was auf den Karten stand, aber lesen und schreiben konnte ich noch gar nicht.
Meine älteste Schwester ging zum Direktor der Viktoriaschule und bat ihn, mich probeweise aufzunehmen; sie wollte sich dafür verbürgen, daß ich mitkäme. Da sie selbst eine ausgezeichnete Schülerin gewesen war und kürzlich ihr Lehrerinnenexamen bestanden hatte, wurde ich auf ihre Fürsprache hin angenommen. An meinem ersten Schultag fragte mich der gestrenge Herr Direktor, ob ich schon meine Geburtstagsgeschenke bekommen hätte, und der Lehrer, der die unterste Vorschulklasse hatte, brachte mir eine Tüte mit Schokoladenplätzchen mit. Es war anfangs recht schwer, ohne jede Vorübung sofort mit Feder und Tinte zu schreiben und ganze Worte zu lesen. Aber Ostern wurde ich mit den andern versetzt und von da an behauptete ich immer einen der ersten Plätze.
Von den Freuden und Leiden des Schullebens habe ich schon erzählt. Ich war eine übereifrige Schülerin. Ich konnte mit hochgerecktem Zeigefingerchen bis zum Katheter vorhüpfen, um nur ja „dranzukommen“. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte. Zu Beginn des neuen Schuljahrs verschlang ich immer sofort das neue Lesebuch und das neue Geschichtsbuch. Ich fing schon am frühen Morgen an zu lesen, während mich meine Mutter frisierte. Aufsätze zu schreiben, war mir ein Vergnügen. Da konnte ich doch etwas von dem anbringen, was mich innerlich beschäftigte. Ich hatte auch keine Scheu, sie den Lehrern abzugeben. Dagegen liebte ich es gar nicht, sie zu Hause lesen zu lassen, erst recht nicht, sie Freunden zu zeigen, die zu Besuch kamen und denen man von meinen Leistungen erzählt hatte. Ich wurde überhaupt außerhalb der Schule still und schweigsam, sodaß es in der ganzen Familie auffiel. Das lag wohl daran, daß ich in meiner inneren Welt eingesponnen war. Zum Teil war vielleicht auch die herablassende Art mit schuld, in der Erwachsene mit Kindern zu verkehren pflegen. Wenn ich anfing über Dinge zu reden, für die ich ihnen zu klein schien, dann konnten sie lachen und es sich gegenseitig als Kuriosität erzählen. Da schwieg ich lieber still. In der Schule wurde ich ernst genommen. Vielleicht sagte ich im Unterricht manches, was die meisten Mitschülerinnen nicht verstanden. Aber ich merkte das nicht, und auch die Lehrer ließen nichts merken, als daß sie mich mit guten Noten auszeichneten.
Von Sorgen und Zerwürfnissen in der Familie
1.
Der Onkel lud alle seine Geschwister mit sämtlichen Kindern zusammen ein. Ich sehe ihn noch auf der Freitreppe stehen, die zum Garten hinunterführte. Wir erhielten unsere Abendmahlzeit draußen auf dem Rasen, und seine Augen leuchteten vor Freude, während er uns ermunterte, es uns recht schmecken zu lassen. Als wir ihn das letztemal besuchten, wohnte er nicht mehr in diesem schönen Hause. Er hatte es aufgegeben und mit einer Mietwohnung vertauschen müssen. Bei diesem Besuch war er besonders weich und gütig, nahm uns auf die Knie und fragte eingehend nach unsern Schulangelegenheiten. Ich war damals 10 Jahre alt. Ich glaube, es war nicht lange danach, als wir plötzlich die Nachricht von seinem Tode erhielten. Meine Mutter ging sofort hin, obgleich