Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein страница 14
Leichenrede . Ich habe viele solche Reden gehört. Sie warfen einen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen, hoben hervor, was er Gutes getan, und rührten damit den ganzen Schmerz der Angehörigen auf; etwas Tröstendes enthielten sie nicht. Es wurde zwar mit feierlich erhobener Stimme gebetet: „Und wenn der Leib zu Staub zerfällt, so kehrt der Geist zu Gott zurück, der ihn gegeben“. Aber dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum erstenmal einem katholischen Leichenbegängnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck. Es war ein namhafter Gelehrter, der zu Grabe getragen wurde. Aber von seinen Verdiensten, ja von dem Namen, den er in der Welt getragen hatte, war nicht mehr die Rede. Nur unter ihrem Taufnamen wurde die arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit empfohlen. Doch wie tröstend und beruhigend waren die Worte der Liturgie, die den Toten in die Ewigkeit geleiteten!
Ein schrecklicher Augenblick war es immer, wenn die Träger am Schluß der Leichenfeier den Sarg aufhoben und hinaustrugen. Die Trauernden folgten paarweise über den weiten Friedhof zum geöffneten Grabe. Dann kam wieder etwas Fürchterliches: das Herablassen des Sarges und das dumpfe Aufstoßen, wenn er den Grund erreicht hatte. Dagegen empfand ich es tröstlich, wenn ich an die Reihe kam, drei Schaufeln Erde hinabzuwerfen. Das war so wie ein letzter Gruß. Am Schluß wurde noch einmal in der Leichenhalle gebetet.
Ein Jahr später, genau um dieselbe Zeit, kam ein ganz ähnlicher Schlag. Der jüngste Bruder meines Vaters, der das großelterliche Geschäft in Gleiwitz übernommen hatte, machte wegen geschäftlicher Schwierigkeiten seinem Leben ein Ende. Wir hatten ihn wenig gekannt, denn er besuchte uns selten; aber das Ereignis als solches und die Parallele zu dem im Vorjahr wirkte erschreckend. Daß der Selbstmord etwas Furchtbares sei, ganz anders furchtbar als der Tod als solcher, das fühlte ich wohl. Und meine Mutter mit ihrer unverwüstlichen Lebensfrische pflegte in solchen Fällen zu sagen, nur in einer augenblicklichen Geistesverwirrung könne ein Mensch einen solchen Entschluß fassen und durchführen; bei gesundem Verstände sei es nicht möglich. Wenn ich später erwog, wie so etwas möglich sei, und zugleich bedachte, warum wohl gerade bei Juden der Selbstmord ziemlich häufig ist, fand ich noch eine andere Erklärung. Auch der wirtschaftliche Kampf gegen die Juden, der im vorigen Jahr so viele mit einem Schlage ruinierte, hat ja zu einer erschreckenden Anzahl von Selbstmorden geführt. Ich glaube, die Unfähigkeit, dem Zusammenbruch der äußeren Existenz ruhig ins Auge zu sehen und ihn auf sich zu nehmen, hängt mit dem mangelnden Ausblick auf ein ewiges Leben zusammen. Die persönliche Unsterblichkeit der Seele ist nicht Glaubenssatz. Das ganze Streben ist ein diesseitiges. Selbst die Frömmigkeit der Frommen ist auf Heiligung dieses Lebens gerichtet. Der Jude kann zähe, mühevolle, unermüdliche Arbeit und die äußersten Entbehrungen Jahr um Jahr ertragen, solange er ein Ziel vor Augen sieht. Nimmt man ihm dies, dann bricht seine Spannkraft zusammen; das Leben erscheint ihm nun sinnlos, und so kommt er leicht dazu, es wegzuwerfen. Den wahrhaft Gläubigen freilich wird die Unterwerfung unter den göttlichen Willen davon zurückhalten.
Der Onkel in Gleiwitz hinterließ sechs Kinder. Die beiden ältesten Töchter — Zwillinge — wurden durch die Trauernachricht von einer Vergnügungsreise zurückgerufen. Sie waren sehr verwöhnt und hatten bisher keine ernste Arbeit kennengelernt. Nun wurden sie nach Breslau geschickt, um einen Kursus in einer Handelsschule durchzumachen und möglichst schnell kaufmännische Stellungen anzunehmen. Man brachte sie, getrennt voneinander, bei Schwestern ihrer Mutter unter. Wir hatten auch sie früher selten zu sehen bekommen. Jetzt besuchten sie uns öfters am Sonntag und schütteten bei unserer Mutter ihr Herz aus. Als sie einmal unter Tränen gestanden, wie wenig liebevoll sie von ihren Verwandten behandelt wurden, sagte meine Mutter einfach: „Kommt zu uns“. Sie horchten fast ungläubig auf, aber es war deutlich zu merken, wie verlockend ihnen der Vorschlag erschien. Ebenso freudig wurde er von ihren Tanten begrüßt (die eine der beiden Damen war kinderlos, die andere hatte eine einzige Tochter). Der Umzug war schnell bewerkstelligt. Wir hatten damals noch nicht unser eigenes Haus. Aber es wurde den beiden ein geräumiges Zimmer überlassen; wir rückten etwas enger zusammen. Es konnten bei uns immer beliebig viele Gäste untergebracht werden. Ich weiß nicht mehr, wie lange die beiden Cousinen bei uns gewohnt haben. Sie heirateten später und bewahrten meiner Mutter immer eine dankbare Anhänglichkeit.
Mit dem Zusammenbruch des Breslauer Geschäfts hing das unglückliche Ende unseres Onkels Jakob zusammen. Im Anschluß daran gab es so unerfreuliche geschäftliche Auseinandersetzungen, daß die Geschwister beschlossen, den Verkehr mit diesem Ehepaar einzuschränken. Meine Mutter litt sehr unter diesen Vorfällen. Einen Schatten auf dem Namen ihres Vaters zu wissen, den Zwist unter ihren Brüdern mit anzusehen, war ihr schrecklich. Und wenn sie viele Jahre hindurch mit ihrem Bruder nicht mehr zusammenkam, so zeigte sie seinen Kindern um so herzlichere Teilnahme und Hilfsbereitschaft, und hatte die große Freude, daß sie alle brave und tüchtige Menschen wurden, die durch eigenen Ernst ersetzten, was die Eltern in ihrer Erziehung versäumt hatten. Ihr Liebling Ernst ging mit Vater und Mutter nach Berlin und blieb am längsten bei ihnen. Ich erwähnte schon, daß er im Weltkrieg gefallen ist. Der zweite Sohn, Fritz, wurde von der Firma, bei der er seine kaufmännische Ausbildung erhielt, schon früh nach Rom geschickt und hat seine Stellung noch heute inne. Richard, der Älteste, blieb in Breslau und verdiente sich mit Mathematikstunden das Geld, um seine Gymnasial- und Universitätsstudien bestreiten zu können. Als Unterprimaner bereitete er schon andere zum Abitur vor, und als ihm erklärt wurde, daß dies nicht gestattet sei, ging er vom Gymnasium ab und bestand das Maturium als Externer. Dann begann er Mathematik zu studieren, ging nach einigen Semestern als Assistent zu David Hilbert nach Göttingen, habilitierte sich dort und bekam später die Professur des zweiten führenden Göttinger Mathematikers Felix Klein. (Bei der „Reinigung“ der Universität von „Nichtariern“ verlor auch er seine Stellung. Eben bereitet er seine Übersiedlung nach Amerika vor). Solange er noch in Breslau war, besuchte er uns häufig. Eine Zeit lang kam er jede Woche einmal zum Mittagessen. Wir freuten uns immer darauf, weil er die erstaunlichsten witzigen Einfälle hatte. In diesem trockenen, humoristischen Ton hielt er aber mit meiner Mutter die ernstesten Beratungen, wie er seinen Eltern beistehen und seinen Vater von unsoliden Geschäften zurückhalten könnte. Er durchschaute die Verhältnisse ganz scharf und klar, hielt aber den Verkehr mit ihnen immer aufrecht und ließ sich durch nichts in seiner Kindesliebe beirren. Wir wußten bei diesen Gesprächen meist nicht, ob wir über die komische, oft drastisch übertreibende Ausdrucksweise lachen oder über den Inhalt weinen sollten.
Zu diesen ernsten Sorgen kamen weniger schwerwiegende Zerwürfnisse in der Familie, die meiner Mutter aber auch viel Kummer bereiteten. Die Brüder Courant hängen sehr aneinander, aber aus Empfindlichkeit und Rechthaberei gerieten sie oft aneinander und es konnte dann Vorkommen, daß sie jahrelang kein Wort miteinander sprachen und es vermieden, zusammenzutreffen. Die sehr viel friedlicher gesinnten Schwestern litten darunter sehr und suchten immer zu vermitteln; aber das war keine einfache Sache. Glückte die Versöhnung zwischen zwei solchen Eisenköpfen, dann war niemand froher als sie. Sie erwiesen einander dann alle möglichen Aufmerksamkeiten, ja sie wagten, durch die Erfahrung nicht belehrt, wieder ein so nahes Zusammenleben, daß bei der nun einmal vorhandenen Eigenart ein neuer Zusammenstoß kaum zu vermeiden war.