Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein
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Es mag zwischen beiden Tatsachen ein innerer Zusammenhang bestanden haben: es war die Zeit, in der in den jetzt 19-jährigen Zwillingen das Verlangen erwachte, „ihr Leben zu genießen“, und dies in Formen, für die sie bei uns kein Verständnis voraussetzen konnten. In den Kreisen der jüdischen Bourgeoisie galt weitgehend die „doppelte Moral“, die meine Schwester und ich leidenschaftlich ablehnten. Aus dieser Verschiedenheit der Anschauungen heraus hat sich die nähere Verbindung mit unseren Verwandten überhaupt wesentlich gelockert. Es blieb der äußere Verkehr und die herzliche Teilnahme bei allen freudigen und traurigen Familienereignissen; aber man glaubte bei uns einen verstiegenen und weltfremden Idealismus zu finden, während uns bei den andern vieles als frivol abstieß. Davon wurde auch meine Mutter mit ergriffen. Bei aller herzlichen Liebe zu ihren Geschwistern und dem Bedürfnis, sie häufig zu sehen und über Gegenwärtiges und Vergangenes mit ihnen zu plaudern, fühlte sie sich mehr und mehr nur noch im eigenen Heim ganz zu Hause.
Zu häuslichen Arbeiten hatten wir wenig Neigung und liebten es gar nicht, wenn wir zum Staubwischen oder Geschirrabtrocknen kommandiert wurden. Je mehr die Studien uns in Anspruch nahmen, desto mehr ließ man uns davon frei; nicht zu unserm Vorteil, denn es ergab sich daraus eine Einseitigkeit der Ausbildung, die ich später noch oft bedauern sollte.
2.
Zu den großen Ereignissen des häuslichen Lebens gehörten neben den Familienfesten die hohen jüdischen Feiertage: vor allem das Peßach- (Paschafest) zeitlich etwa mit Ostern zusammenfallend, sowie das Neujahrsfest und der Versöhnungstag (Im September oder Oktober je nach der Verschiebung des jüdischen zum gregorianischen Kalender). Es ist den meisten Christen nicht bekannt, daß das „Fest der ungesäuerten Brote“, die Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, noch heute so gefeiert wird, wie der Herr es mit den Jüngern feierte, als er das allerheiligste Altarsakrament einsetzte und von ihnen Abschied nahm. Es wird zwar kein Osterlamm mehr geschlachtet, seit der Tempel zu Jerusalem gefallen ist, aber noch immer verteilt der Hausherr unter den vorgeschriebenen Gebeten das ungesäuerte Brot und die bitteren Kräuter, die an die Trübsal der Verbannung erinnern, segnet den Wein und liest den Bericht über die Befreiung des Volkes aus Ägypten vor. Mit der eigenwilligen Konsequenz, die dem jüdischen Geist eigen ist, sind die Festbräuche ausgebaut worden: eine ganze Woche lang wird kein gesäuertes Brot und auch sonst nichts Gesäuertes genossen oder auch nur im Haus geduldet. Natürlich braucht eine vielköpfige Familie einen großen Vorrat an ungesäuerten Broten („Mazzen“). Sie werden in großen Bäckereien nach bestimmten Vorschriften und „unter Aufsicht des Rabbinats“ hergestellt. Wir bekamen sie schon einige Zeit vor dem Fest in großen Rollen von braunem oder grauem Papier, sie durften aber vor dem ersten „Sederabend“ (nach der festen Ordnung genannt, nach der das Mahl gehalten wird) nicht angerührt werden. Am Rüsttage vor dem Fest wird das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Es wird alles Gesäuerte entfernt, die letzten Brotkrumen werden zusammengefegt und verbrannt. Damit nicht genug: es wird alles Geschirr auf den Speicher oder in den Keller gebracht und dafür anderes herbeigeholt, das das ganze Jahr geruht hat und nun gründlich gesäubert werden muß. (In meinen Kinderjahren wurde das alles bei uns so gehalten; später haben die liberalen älteren Geschwister meiner Mutter manches „abgehandelt“). Die Hausfrauen haben an solchen Rüsttagen viel Arbeit und sind froh, wenn der Abend und damit das Fest endlich anbrichen. (Die jüdischen Feste beginnen am Vorabend, wenn der erste Stern am Himmel steht).
Wir Kinder freuten uns natürlich immer sehr auf diese Unterbrechung des Alltagsdaseins, begrüßten die Töpfe und Schüsseln, die wir ein Jahr lang nicht gesehen hatten, und freuten uns auf die guten Gerichte, die es nun während dieser Zeit gab. Allerdings wurde die Woche doch recht lang, und es war wiederum ein Fest, wenn das langentbehrte Butterbrot zum erstenmal wieder auf den Tisch kam. Wir freuten uns auch auf die Abende mit der feierlichen Speisefolge und den vielen Gebeten. Ich hatte dabei eine besondere Rolle: Die Liturgie des Sederabends enthält eine Reihe von Fragen, in denen das jüngste Kind sich erkundigt, warum an diesem Abend alles so anders sei als an andern Abenden. Der Hausherr antwortet darauf und erklärt den Sinn der einzelnen Bräuche. Später, als ich schon „aufgeklärt“ war, begrüßte ich es, daß Neffen und Nichten da waren, die mich ablösten. Überhaupt litt die Weihe des Festes darunter, daß nur meine Mutter und die jüngeren Kinder mit Andacht dabeiwaren. Die Brüder, die anstelle des verstorbenen Vaters die Gebete zu sprechen hatten, taten es in wenig würdiger Weise. Wenn der ältere nicht da war und der jüngere die Rolle des Hausherrn übernehmen mußte, ließ er sogar deutlich merken, daß er sich innerlich über all dies lustig machte.
Noch höher im Rang als dieses Fest stehen das Neujahrs- und Versöhnungsfest. Das Neujahrsfest wird zwei Tage lang gefeiert. Am Vorabend beginnt es wiederum mit einem Festmahl. Die Hausfrau backt dafür (wie für jeden Sabbat) „Barches“, ein feines Weißbrot; aber sonst wird es, auch auf bestimmte vorgeschriebene Weise, zu länglichen Zöpfen geflochten, zu Neujahr dagegen rund geformt. Dieses Brot wird hauptsächlich zum Fleisch genommen. Zum Beginn der Mahlzeit wird es angeschnitten und jeder Tischgenosse erhält ein Stück; die Verteilung geschieht genau nach dem Alter. Ehe man davon kostet, betet man den Segensspruch: Gepriesen seist Du, Gott, Herr der Welt, der Du aus der Erde Speise hervorbringst. An diesem Abend gab es außerdem Honig und die ersten Weintrauben. Meine Mutter nahm nie vor Neujahr welche. Für die Kaffeemahlzeiten wurden große Vorräte von vorzüglichen Kuchen gebacken. Die Gebetsordnung ist für die Neujahrsabende nicht so ausgedehnt wie für die Sederabende; das heisst für die häusliche Feier. In der Synagoge ist am Vorabend wie an beiden Festtagen großer Gottesdienst. Das Judentum hat eine ausgebildete Liturgie, feste Gebetszeiten für jeden Tag und für die hohen Feste eine Gottesdienstordnung, die einen großen Teil des Tages ausfüllt. (Aus dieser Liturgie, die sich aus Psalmen und Schriftlesungen zusammensetzt, ist die Liturgie der Kirche erwachsen). Meine Mutter pflegt am Vorabend nicht den öffentlichen Gottesdienst zu besuchen, sondern betet ihn zu Hause still für sich aus ihrem Gebetbuch mit, nachdem sie andächtig, auch unter den vorgeschriebenen Gebeten und zur vorgeschriebene Stunde, die Kerzen in den hohen silbernen Leuchtern angezündet hat, die den Beginn des Festes ankünden.
Aber am Morgen begibt sie sich in die Synagoge (zu Fuß, weil man an den Festtagen kein Gefährt benützt; denn es ist ja jede Arbeit untersagt, und man darf auch nicht anderer Menschen Arbeit ausnützen) und kommt erst zum Mittagessen zurück. Wir begleiteten sie als Kinder gewöhnlich nicht, holten sie aber mittags ab. Wir trugen dann unsere besten Kleider und Schuhe und fanden uns in dem Vorhof mit vielen andern Kindern zusammen, die festlich geschmückt ihre Eltern erwarteten. Die Schule besuchten wir an den hohen Festtagen nicht. Meine größte Festfreude war es, mit unbeschränkter Zeit ein schönes Buch zu lesen; wir versorgten uns schon immer vorher mit Lesestoff.
Der höchste jüdische Feiertag ist der Versöhnungstag: der Tag, an dem einst der Hohepriester ins Allerheiligste eintrat und das Versöhnungsopfer für sich und das ganze Volk darbrachte, nachdem der „Sündenbock“, auf den alle Vergehen des Volkes geladen wurden, in die Wüste hinausgetrieben war. Das alles hat aufgehört. Aber noch heute wird der Tag mit Beten und Fasten begangen, und wer auch nur ein wenig noch auf