Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein страница 15

Автор:
Жанр:
Серия:
Издательство:
Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein

Скачать книгу

Else war ja für sie immer ein Sorgenkind. Sie war nach ihrer Lehrerinnenprüfung in verschiedenen Familien als Hauslehrerin, manchmal in Breslau nur für die Nachmittage zur Beaufsichtigung der Schularbeiten, einige- male auch in kleinen Provinzstädten, wo sie den Unterricht und die Erziehung der Kinder übernahm. Sie war mit ganzer Seele Erzieherin, hatte starken Einfluß auf ihre Zöglinge und wurde sehr von ihnen geliebt. Aber nirgends blieb sie lange. Manchmal war Eifersucht der Hausfrau auf die schöne, junge Hausgenossin für sie die Veranlassung, zu gehen. Die Beziehungen zu den Kindern blieben oft bestehen; meine Schwester ist überhaupt eine treue Freundin und hat manche Verbindungen mit Lehrerinnen und Schulgefährtinnen das ganze Leben hindurch aufrecht erhalten.

      Ihr Bestreben war es seit der Prüfung, eine Anstellung im Schuldienst zu bekommen. In Preußen war das fast unmöglich für eine Jüdin, und so folgte sie der Anregung einer Freundin, sich in Hamburg zu bemühen. Es glückte ihr auch, dort an einer Privatschule anzukommen. Es sollte nicht für lange Zeit sein. Sie traf in Hamburg mit Max Gordon zusammen, einem Vetter unserer Mutter, der sich vor Jahren dort als Hautarzt niedergelassen hatte. Im September des Jahres 1903 erhielten wir die Nachricht von ihrer Verlobung.

      Einige Jahre vorher hatte sich die kurze Ehetragödie meiner Schwester Frieda abgespielt, und nicht lange nach Frieda hatte sich Arno verheiratet. Meine Mutter hatte zu seiner Eheschließung ausdrücklich ihre Zustimmung gegeben. Sie mochte Martha gern leiden, so lange sie nur als Freundin ins Haus kam. Ihr fröhliches Wesen und ihre treue Anhänglichkeit an unsere ganze Familie machte sie uns allen lieb. Erst im nahen Zusammenleben ergaben sich aus der großen Verschiedenheit der Naturen viele Schwierigkeiten. Das geräumige Wohnhaus, das wir kurz nach Friedas Hochzeit bezogen hatten, war für zwei Familien gebaut; es war vertikal geteilt und hatte zwei Treppenhäuser. Arno und Martha wurden in dieses Haus mit aufgenommen. Eine Zeit lang bewohnten wir gemeinsam die größere Seite und hatten die kleinere vermietet. Später erhielt das junge Ehepaar die kleinere Seite für sich und meine Mutter mit ihren vier Töchtern und der kleinen Enkelin Erika die größere. Die Hoffnung, daß meine Schwägerin eine tüchtige Hilfe im Geschäft sein würde, erfüllte sich nicht. Die Art, Geschäfte zu betreiben, die sie in Amerika gelernt hatte, war von den Traditionen unseres Hauses so verschieden, daß meine Mutter sie bald am liebsten wieder ganz ferngehalten hätte. Ihre Hilfe beschränkte sich auch schließlich darauf, daß sie Gänge besorgte, für die gerade niemand Zeit hatte. Sie übernahm das immer gern, da das „shopping“ eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen blieb. Ein dauernder Stein des Anstoßes war es für meine Mutter, die wenig geordnete Wirtschaftsführung täglich im eigenen Hause mit anzusehen. Natürlich vermehrten sich die Schwierigkeiten mit dem Anwachsen der Familie. Martha wünschte sich viele Kinder; groß, kräftig, gesund und schön sollten sie sein. Sie selbst war groß und stark und sah aus wie das blühende Leben.

      Ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht bald. Um so glücklicher war sie, als das erste Kind zu erwarten war. Sie versicherte uns beständig, es würden „twins“ (Zwillinge) sein. Während der Entbindung waren wir alle im Eßzimmer, und sie unterhielt sich durch die halbgeöffnete Tür mit uns; als ihr schließlich der kleine Wolfgang gereicht wurde, fragte sie, wo das zweite Kind bliebe. Meine Mutter und ebenso der erfahrene Frauenarzt erklärten, daß ihnen so etwas noch nicht vorgekommen sei. Wolfgang war ein Kind, wie sie es sich gewünscht hatte, und ebenso Nummer 3 und 4, Helmut und Lotte: alle groß und kräftig, blond und blauäugig, rund und rotbäckig. Bei Eva aber, die an zweiter Stelle kam, stellte sich schon im ersten Jahr heraus, daß sie nicht ganz normal war. Sie lernte sehr spät und nie ganz korrekt sprechen und blieb auch geistig zurück. Daß dies Kind durch die Unvernunft der Eltern nicht sachgemäß behandelt wurde und daß sie auch die andern nicht zur gebührenden Rücksicht erzogen, war für meine Mutter eine neue dauernde Sorge. Sie hatte für Eva viel mehr Teilnahme als für die drei gesunden Kinder. Zeitweise nahm sie sie ganz zu uns, um sie mit großer Geduld sprechen zu lehren, ihr richtiges Essen und manches andere beizubringen. Die beste Unterstützung hatte sie dabei an der kleinen Erika, die mit den Vettern und Cousinen wie mit Geschwistern aufwuchs und sich um das unglückliche kleine Geschöpf liebevoll annahm. Die Erziehungsmethode meiner Schwägerin Martha bestand hauptsächlich darin, daß sie die Kinder reichlich fütterte, für ausgiebigen Schlaf und frische Luft sorgte. Und ihr Stolz war es, daß sie bei dieser Behandlung körperlich prächtig gediehen. Wenn sie krank wurden, dann wurde die Mutter nicht nur traurig und besorgt, sondern zornig, als ob ihr ein Unrecht geschähe. Sie sagte auch ganz offen, daß sie von Krankenpflege nichts verstünde, und war froh, wenn wir ihr dann zu Hilfe kamen.

      Als gelernte Krankenpflegerin war ich die Nächste dazu, so oft ich bei solcher Gelegenheit zu Hause war. Im Februar 1920 hatten einmal alle Kinder zugleich die Grippe; an einem Abend stieg bei dreien die Temperatur auf über 40 Grad. Helmut, der damals vier Jahre alt war, hatte am längsten damit zu tun, er hatte eine schleichende Lungenentzündung, die immer wieder neue Stellen ergriff und ein Vierteljahr anhielt. Als die andern gesund waren, wurde er von ihnen abgesondert und kam in ein großes Zimmer, das an mein Arbeitszimmer stieß. Wenn er allein war, rief er: „Tante Edith, komm doch herein. Du kannst deine Schularbeiten hier machen“. (Die „Schularbeiten“ waren meine philosophische Arbeit.) „Meine Mutter läßt immer kranke Kinder ganz allein liegen“. Ich raffte dann meine Papiere zusammen und versuchte nebenan am Schreibtisch meines Bruders weiterzuarbeiten. Wenn der kleine Patient mich dann immer wieder an sein Bettchen rief, sagte ich: „Helmut, wenn du so oft störst, kann ich doch nicht arbeiten“. „Du brauchst ja nicht!“, war die Antwort. Und das war so überzeugend, daß ich zu ihm ging und mit ihm spielte. Dafür faßte er eine große Zuneigung zu mir.

      Als einige Zeit nach seiner Genesung meine Schwester Erna sich verlobte, kam er an einem Sonntag nachmittag zu uns herüber, während wir gerade bei Kaffee und Kuchen um den Familientisch saßen. Er lief auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Willst du meine Braut sein?“ Ich gab bereitwillig mein Jawort, nahm ihn auf den Schoß, schenkte ihm etwas von einem Kuchen und sagte, Braut und Bräutigam müßten alles miteinander teilen. Das gefiel ihm sehr gut. Auf einmal erschrak er: „Ich habe eben drüben schon Kuchen gegessen und dir nichts davon gegeben“. Doch sofort beruhigte er sich selbst: „Aber da warst du ja noch nicht meine Braut“. Von diesem Tage an brachte er mir alle kleinen Arbeiten, die er im Kindergarten verfertigte; ich mußte sie sorgfältig aufbewahren, denn von Zeit zu Zeit öffnete er die Truhe, in der ich sie aufhob, um sich zu überzeugen, wieviel er mir schon geschenkt hätte. Einmal stand er vor den langen Reihen meiner philosophischen Bücher und zählte sie. „Die mußt du alle später lesen, damit wir darüber sprechen können“, sagte ich. „Ja, wenn ich groß bin, werde ich alle lesen“, antwortete er in entschlossenem Ton. Er hielt an dieser Verlobung jahrelang fest. Nur manchmal kam ihm eine leise Ahnung, daß an der Sache etwas nicht ganz stimmte. Einmal fragte er: Tante Edith, wenn ich groß bin, bist du dann auch noch groß?“ Endlich brachten ihn die Neckereien der Größeren darauf, daß aus seinen Heiratsabsichten nichts werden könnte. Das war aber in meiner Abwesenheit, und als ich wieder zu Besuch kam, vertraute er seinem Vater an, er würde doch die Verlobung sehr gern aufrecht erhalten.

      Ein Tag aus seiner schweren Krankheit ist mir noch besonders in Erinnerung. Es war die Krisis. Das Kind lag bleich und ohne Besinnung in seinem Bettchen; manchmal sagte es ein paar Worte aus seinen Fieberträumen; der Puls war kaum noch zu fühlen. Erna und ich saßen bei ihm. Sie war damals schon fertige Ärztin, hatte aber solche Fälle noch wenig gesehen. Sie hatte gar keine Hoffnung mehr, und große Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich war viel ruhiger und zuversichtlicher. Ich hatte während des Krieges bei meinen Typhuspatienten manche Lungenentzündung gesehen und es öfters erfahren, wie sie sich nach einem schweren Kollaps, der einem Todeskampf glich, wieder erholten. Einmal kam unsere Schwägerin herein. Sie beugte sich über das Bettchen und sagte mit zornigen Tränen: „So ein schönes Kind soll man verlieren!“ Dann ging sie wieder hinaus. Wir beide sahen uns entsetzt an. Es war eine uns völlig fremde und fast unbegreifliche Einstellung, die aus diesen Worten sprach. Bald darauf kam der Kinderarzt und brachte noch einen Lungenspezialisten mit. Sie untersuchten, und der Internist befahl, eine Wanne mit heißem Wasser zu bringen. Das regungslose Kind wurde hineingehalten; nach kurzer Zeit fing es an, lustig zu strampeln und die Herren tüchtig zu bespritzen. Als der kleine Kerl

Скачать книгу