Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Edith Stein

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Aus dem Leben einer jüdischen Familie - Edith Stein

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ansieht. Daß nun solche Überlegungen in unsere Familie hineingetragen wurden, war für meine Mutter ein großer Schmerz. Nachdem sie aber einmal den Verdacht geschöpft hatte, daß ihre Schwiegertochter eigennützig auf ihren Vorteil bedacht sei, hielt sie sich ihrerseits für verpflichtet, ihre Töchter gegen künftige Übergriffe sicherzustellen. Sie begann mit uns über die Lösung zu beraten, und nachdem wir unter uns zu einem Ergebnis gekommen waren, das uns für alle annehmbar schien, sollte ich als Sprecherin für Mutter und Schwestern meinem Bruder in ihrer Gegenwart unsern Vorschlag unterbreiten. Das hatten sie sich ausgedacht, weil sie sich alle vor seiner Heftigkeit fürchteten und sich selbst nicht genügend Selbstbeherrschung zutrauten, um seinen Zornausbrüchen gegenüber ruhig und sachlich zu bleiben.

      Es war ein sehr peinlicher Augenblick, als Arno in diesen Familienrat hineingerufen wurde. Er blieb sehr ruhig auf meine Ansprache und antwortete nur mit wenigen Worten, die kein klares Ja oder Nein enthielten. Es kränkte ihn schwer, daß so förmlich mit ihm verfahren wurde und daß man ihm die jüngste Schwester als Autorität gegenüberstellte. Er rief nun einen andern Vermittler zu Hilfe, der ebensosehr sein Vertrauen besaß wie das unserer Mutter: ihren Bruder Eugen aus Berlin. Ich habe schon einmal erwähnt, daß dieser jüngere Bruder besonders an ihr hing und ihr oft in geschäftlichen Dingen zur Seite stand. Er war ein hervorragend tüchtiger Kaufmann, hatte eine Fabrik für Maschinenteile mit ausgebreitetem Exporthandel, besonders nach England und Rußland, selbst ins Leben gerufen und leitete dieses ganze Unternehmen mit großer Umsicht. Solange er an seinen eigenen Söhnen keine genügende Unterstützung hatte, rief er meinen Bruder öfters zu Hilfe bei größeren Abschlüssen in den Büchern; von daher bestand auch zwischen ihnen ein besonderes Vertrauensverhältnis. Nach der ersten Regelung, die bei uns getroffen wurde, blieb meine Mutter Geschäftsinhaberin, Arno wurde als Teilhaber mit Gewinnanteil auf genommen. Als sie etwa siebzig Jahre alt war, begannen Geschwister und Kinder in meine Mutter zu dringen, sie sollte sich zur Ruhe setzen und das Geschäft ganz ihrem Sohn übergeben. Sie wollte davon nichts wissen, und ich habe sie in ihrem Widerstand immer unterstützt, weil es mir klar war, daß die Tätigkeit im Geschäft unlöslich zu ihrem Leben gehörte. Zehn Jahre später fiel es niemanden mehr ein, sie in den Ruhestand versetzen zu wollen. Sie hat aber in diesem hohen Alter noch einmal eine Umordnung vorgenommen: Arno als Inhaber des Geschäfts eintragen lassen und sich selbst und Frieda nur einen Gewinnanteil gesichert. An der Arbeitsteilung zwischen den Dreien wurde dadurch nichts geändert; meine Mutter nannte aber seitdem ihren Sohn den „Chef“. Nach außen hin war nun er der verantwortliche und bestimmende Leiter, er schloß die Geschäfte ab und nahm unter den Kaufleuten der Stadt eine angesehene Stelle ein, wie es der Bedeutung der alten, soliden Firma entsprach. Er spielte die soziale Rolle, nach der ein Mann in reifen Jahren zur Befriedigung seines Selbstbewußtseins verlangt. Eingeweihte freilich wußten, daß er erntete, was die Mutter gesät und in mühevoller Lebensarbeit gehegt und gehütet hatte.

       3.

      Das Regiment im Hause war schon vor Jahrzehnten in die Hände meiner Schwester Rosa übergegangen. Wenn meine Mutter im Geschäft oft unter der Heftigkeit des „Chefs“ zu leiden hatte, so bedeutete die Heimkehr in ihre Häuslichkeit häufig einen Übergang vom Regen in die Traufe. Diese beiden Geschwister glichen einander sehr im Temperament; das wollte aber keines wahr haben, eines entsetzte sich über die Fehler des anderen, ohne zu ahnen, wie sehr es selbst darein verstrickt war. Rosas natürliche Heftigkeit war wohl noch zu besonderer Reizbarkeit gesteigert, weil sie sich unbefriedigt fühlte. Sie hatte stets jeden Versuch wohlmeinender Verwandten, ihr eine „gute Partie“ zu vermitteln, entrüstet zurückgewiesen. Nach Friedas unglücklicher Ehe durfte ihr schon gar niemand mehr von so etwas sprechen. Obgleich sie in der Haushaltsführung sehr selbständig war, konnte sie sich doch nie ganz als die Hausfrau fühlen, Mutter und Schwestern hatten ihre bestimmten Wünsche, auf die sie Rücksicht nehmen mußte, wenn sie sich auch häufig erst mit heftigen Worten dagegen sträubte. Sie selbst hatte das Mißtrauen, daß die andern ihre Arbeit geringschätzten, und sehnte sich darum nach etwas anderem, hatte aber bei aller Entschiedenheit, mit der sie in Worten ihre Ansicht zu vertreten pflegte, nicht genügend Initiative und Energie, um gegenüber Widerständen in der Familie ihre Berufspläne durchzusetzen. Meine Mutter, die sich nach Ruhe und Frieden in ihrer Häuslichkeit sehnte, litt schwer unter den täglichen Reibungen. Ein Vorschlag, den sie oder Frieda machten, eine Ansicht, die sie äußerten, traf meist sofort auf heftigen Widerspruch. Beide halfen in den frühen Morgenstunden, in der Mittagspause und abends nach Geschäftsschluß eifrig bei den häuslichen Arbeiten. Dazu bestellten sie das Gartenland, worein sie ein Stück des Lagerplatzes umgewandelt hatten, säten, pflanzten und ernteten; ja, wenn es ihre Zeit zuließ, richteten sie Gemüse und Obst so her, daß es kochfertig abgeholt werden konnte. Aber alle ihre Dienstleistungen wurden einer scharfen Kritik unterzogen.

      Meine Mutter mußte sich oft wie ein ungeschickter Dienstbote abkanzeln lassen, als ob sie nie selbst einen Haushalt geführt hätte. Und sie hatte doch im Elternhaus für die vielköpfige Familie und zahlreiche Gäste zur Zufriedenheit aller gekocht, und ihren Kindern war niemals wohler, als wenn die Mutter selbst für sie sorgte. Freilich hatte sie seit dem Tode unseres Vaters den Haushalt aus der Hand geben müssen und es war ihr nun manches ungewohnt. Aber sie übernahm sonntags gern noch alle Arbeit, weil es sie freute, wenn wir Schwestern einmal alle zusammen einen Morgenausflug machen konnten; dann bereitete sie in aller Ruhe alles für unsere Rückkehr vor und trug uns mit der größten Liebe und Freude die selbstbereiteten Speisen auf. Wenn ich mir in unsern Studienjahren ganz im stillen einen idealen Haushalt dachte, war es einer, in dem meine Mutter mit Erna und mir allein lebte und für uns beide sorgte. Die täglichen Störungen des häuslichen Friedens zehrten an allen; es kamen aber tiefgehende Unstimmigkeiten hinzu. Meine Mutter wünschte die Familie möglichst zusammenzuhalten, alle sollten alle Freuden und Leiden gemeinsam haben; besonders aber sollten die Pärchen, die die Alterszusammengehörigkeit gebildet hatte, nicht auseinandergerissen werden. Bei Erna und mir machte das keine Schwierigkeiten, wir schlossen uns ohnehin in der gemeinsamen Studienzeit noch inniger zusammen, als es in der Kindheit der Fall gewesen war. Es war uns nur manchmal lästig, wenn die viel älteren Schwestern bei unsern Zusammenkünften mit unsern Freunden und Freundinnen dabei sein sollten, weil es ihnen an eigenem Verkehr mangelte. Größere Schwierigkeiten gab es zwischen Frieda und Rosa, die im Temperament so verschieden waren und bei denen zu den Banden des Blutes keine starke geistige Gemeinschaft kam. Zudem äußerte sich Rosas unbefriedigtes Selbständigkeitsbedürfnis darin, daß sie etwas Eigenes für sich haben wollte. Sie begann sich dagegen aufzulehnen, daß sie „mit Frieda zusammengespannt würde“. Sie wollte nicht mehr mit ihr gleich gekleidet gehen, sie wollte ihr eigenes Zimmer haben und es nach eigenem Geschmack einrichten, sie wollte auch Menschen haben, mit denen sie allein verkehrte. Alle diese an sich so begreiflichen kleinen Wünsche — mir wurden solche Zugeständnisse mit der größten Selbstverständlichkeit gemacht, ohne daß ich ein Wort darüber zu verlieren brauchte — erregten Anstoß, weil sie sie in schroffen Worten äußerte. Außerdem war meine Mutter seit Friedas Ehescheidung besonders darauf bedacht, sie vor Kränkungen zu schützen, und darum waren ihr Rosas Absonderungsbestrebungen, die sich ja vornehmlich gegen diese Schwester richteten, überaus schmerzlich. Dazu kam noch der nicht ganz unbegründete Verdacht, daß in den freundschaftlichen Aussprachen mit Außenstehenden über Mutter und Schwester und die Schwierigkeiten des häuslichen Lebens geklagt würde. Es ist öfters vorgekommen, daß Frauen, die ursprünglich mit mir befreundet waren, sich in meiner Abwesenheit um Rosa annahmen und in herzliche Verbindung mit ihr kamen. Wenn ich gelegentlich von ihnen hörte, welches Bild sie aus ihren Schilderungen von unserm häuslichen Leben bekommen hatten, dann mußte ich bei aller Anerkennung von Rosas täglichen Opfern doch manche Berichtigungen anbringen.

      Sie wollte natürlich nur die Wahrheit sagen; aber sie sprach bloß von dem, was sie litt; und es kam ihr nicht in den Sinn, auch zu sagen, worunter die andern zu leiden hatten. Diese Freundinnen waren begeistert von ihrer Herzensgüte, ihrer zarten Aufmerksamkeit. Sie war im Verkehr mit ihnen — ganz ungeheuchelt — so sanft und bescheiden, daß sie sich von ihrem ganz andersgearteten Verhalten im Familienkreis gar keine Vorstellung machen konnten.

      Meine Mutter wünschte oft, daß sie nur einen kleinen Teil

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