Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
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Also blättere ich in den Unterlagen meiner ersten unterdrückten Forschungsarbeit, die einige Umzüge überstanden haben. Sie elektrisieren mich. Wie habe ich diese Geschichte so lange und so gründlich verdrängen können? Ja, dieser Karam Khella! Ich erkenne, daß die ganzen Geschichten eher noch aktueller geworden sind.
Ob auch der öffentlich häufig geleugnete Rassismus bei den vielen meiner Auseinandersetzungen und bei der Unterdrückung zweier meiner Bücher eine Rolle gespielt hat, ist zweitrangig. Klar, es fällt den Angehörigen der „blond-blauäugig-weiß-christlichen“ Kultur (Erläuterungen dazu folgen im „Prolog“) schwer, damit zu leben, daß auch andere denken können, daß andere Menschen Kulturen hervorgebracht haben, denen die kompromißlose Ausbeutung, die Unterdrückung, die Entwürdigung anderer und der Völkermord nicht eingefallen sind. Daß es Angehörige solcher Kulturen nun im Zentrum ihres Machtbereiches in vielen Bereichen ihnen gleich tun, sie auch überragen, ist schwer verdaulich. Mag alles sein. Aber fällt die Art und Weise der Unterdrückung der eigenen Leuten anders aus?
Also habe ich mich überzeugen lassen, die Geschichten meines ersten unterdrückten Buches zu erzählen. Sie spielen sich in und um Universitäten ab, sind diese doch wichtige Facetten der Sozialgeschichte schlechthin. Denn die Universität ist eine prägende gesellschaftliche Einrichtung. Überall.
Sozialgeschichten werden selten erzählt. Solche über Universitäten noch nie. Wer verfügt schon über das belegbare Wissen, um Geschichten aus Universitäten zu erzählen? Auch systematisches Sammeln von nicht mehr belegbaren kleineren Geschichten wäre wichtig. Aber wer soll sie sammeln, wer soll sie aufschreiben? Ist es für die Karriere förderlich, solche Geschichten zu veröffentlichen?
Sozialgeschichten sind Geschichten über soziale Konflikte. Nun gibt es in allen Konflikten Sieger und Besiegte, Gewinner und Verlierer. Die Gewinner und Sieger ziehen es eher vor, über die wirklich angewandten Mittel zu schweigen. Was zählt, ist der Sieg. Sieger verdienen eben den Sieg. Heldenhaft, versteht sich. Und wer soll sich für die Geschichte des Verlierers interessieren? Deshalb werden so selten Sozialgeschichten geschrieben.
Eine kleine, kurzgefaßte, aber doch beispielhafte Episode soll verdeutlichen, was damit gemeint ist. Schauplatz ist die Universität Köln. Mitte der fünfziger Jahre. Noch gibt es keine Massenuniversitäten. Der Grad der Anonymität ist gering. Hans Albert ist noch nicht bekannt als ein hervorragender SoziaIwissenschaftler. Er habilitiert sich gerade in der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät. Seine Habilitation hängt an einem seidenen Faden. Nicht weil seine Arbeit dem wissenschaftlichen Anspruch nicht genügt hätte. Nein. Sein wissenschaftstheoretischer Teil ist zu gut, wie später der in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“ ausdauernd geführte wissenschaftstheoretische Disput über den „Positivismus“ mit Jürgen Habermas zeigen wird. Dieser methodologische Teil stellt die gängige gesellschaftswissenschaftliche Praxis in Frage, implizit auch jene bestallten Fakultätsmitglieder.
So ist halt die Wissenschaft in der Geschichte, auch wenn dies vielen etablierten Wissenschaftlern so häufig gegen den Strich geht. Die geltenden Erkenntnisse werden immer wieder auf den Prüfstand gebracht, neue Aspekte kommen hinzu, die Wissenschaft entwickelt sich, und das Wissen wächst. So sollte es sein. Aus der Natur der Sache heraus. So wäre es auch immer, wenn die Wissenschaftler nur Wissenschaftler wären. Aber sie sind auch Menschen und zuweilen allzu menschlich. Wie beispielsweise jene Mitglieder der wirtschafts– und sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Universität Köln. Ordinarien. Mitte der fünfziger Jahre. Sie haben die Macht, die Habilitationsarbeit von Hans Albert abzulehnen, auf Änderungen zu bestehen, ihn zum Widerruf zu zwingen, unabhängig von der wissenschaftlichen Qualität. Und sie sind entschlossen, gegen Hans Albert ihre Macht zu mißbrauchen.
Fakultätsintern, vielleicht auch universitätsintern, wird über den Vorfall getuschelt. Wäre da nicht ein Fakultätsmitglied namens Gerhard Weisser gewesen, der von der Politik als Sozialpolitiker in die Wissenschaft gekommen war, hätte Hans Albert wahrscheinlich wider seines Gewissen große Zugeständnisse machen müssen. Er hätte keine andere Wahl gehabt, wollte er weiterhin im Wissenschaftsbetrieb arbeiten. Und: Er hat bis dahin kein anderes Handwerk als „Wissenschaft“ gelernt. Auch Gerhard Weisser gelingt es nicht, die Arbeit ohne Zugeständnisse durchzubringen.
Nach der erfolgten Habilitation hätte Hans Albert diesen eines Wissenschaftsbetriebs unwürdigen Vorfall öffentlich machen können. Nur, das wäre dann auch das Ende seiner wissenschaftlichen Karriere gewesen. Höchstwahrscheinlich. Später kann er die Geschichte auch nicht erzählen, weil „Wohlverhalten“ für das Weiterkommen im Wissenschaftsbetrieb wichtig ist. Dieser Wirkzusammenhang stellt sicher, daß sich Ähnliches in der Universität Köln und auch anderswo wiederholte.
Ich habe einfach Glück gehabt, daß ich ohne faule Kompromisse dem Universitätsbetrieb erhalten geblieben bin. Aber erzählt habe ich die Geschichten auch nicht. Noch nicht. Schon immer mal habe ich mir durch den Kopf gehen lassen, ob es nicht meine Verpflichtung wäre, die Geschichten zu erzählen. Aber dann holt einen der Alltag wieder ein. Und Entschuldigungen wie: „Sei doch froh und zufrieden, daß Du den Rücken nicht krumm machen mußtest, daß Du nicht ständig verlogen sein mußtest, daß Du Dich nicht auf die Couch oder aufs Krankenbett legen mußtest“. Bis ich mit einer verrückt erscheinenden Frage von Karam Khella konfrontiert werde.
Auch eine Universität entwickelt sich nicht von selbst. Sie wird entwickelt. Forscher, Lehrer, Studierende, Dienstleister aller Art und auf verschiedenen Ebenen entwickeln sie. Und jene einflußreichen Mitglieder der Gesellschaft, die die materielle Funktionsfähigkeit sicherstellen und aus dem Hintergrund die Drähte ziehen. Also fließen in die Universität vielfältige Interessen ein. Deshalb wird in den Universitäten nicht über alles geforscht, was gesellschaftlich notwendig wäre. Nein, geforscht wird nur in jenen Bereichen und über jene Themen, für die Forschungsmittel zur Verfügung gestellt werden. Steckenpferde einzelner Forscher sind selten, noch seltener sind zufällige Entdeckungen.
Die Lehre richtet sich folgerichtig nach den so gewonnenen Forschungsergebnissen. Selbstverständlich wird auch nicht alles gelehrt, werden auch nicht alle verfügbaren Forschungsergebnisse zur Lehre herangezogen. Nein. Gelehrt werden nur jene Aspekte, mit denen sich die Forscher und Lehrer gerade beschäftigen und die mit dem geringsten Aufwand in die Lehre einzubringen sind. Regelmäßige Wiederholungen sind die Regel. Lehre bringt keinen Ruhm, das tun nur veröffentlichungsfähige Forschungsergebnisse. Und ohne Ruhm keine Karriere. Ohne Karriere kein Reichtum. Und es gibt auch Forschungsergebnisse, die noch wertvoller sind, wenn sie nicht veröffentlicht werden, wenn sie unter Verschluß gehalten werden. Marktgesetze! Auch deshalb hat Forschung Vorrang. Und Forschung kostet Zeit. Viel Zeit.
Dieser Lauf der Dinge pflanzt sich fort. Studierende sind die schwächsten Akteure auf dieser Bühne, schwächer gar als die Dienstleister in den Universitäten. Ihr Anpassungsdruck ist groß. Nischen sind selten. Sie lernen mehr als sie fragen. Kritische Fragen sind weder bei den Lehrenden noch bei den Kommilitonen gern gesehen. Sie entsprängen Profilierungssüchten, heißt es. Sie seien zeittötend. Seltenst haben Studierende Gelegenheit, Einblicke in die Verteilung und Verflechtung der Macht innerhalb der Universität zu gewinnen, über die Handlungen der wirklichen Drahtzieher Bescheid zu wissen. Sie haben nicht einmal die faktische Möglichkeit, ihre Lehrer insoweit zu kennen, daß sie wissen, wie und warum ihre Lehrer zu ihren Forschungsschwerpunkten gekommen sind. Später, mit zunehmendem Alter, sind sie dann selbst in jenen leitenden gesellschaftlichen Funktionen tätig, über die sie sich in ihrer Lernzeit keine Einblicke, keine Durchblicke verschaffen konnten.
Ich weiß, daß es zu dem bisher Gesagten kaum Widerspruch geben wird. Auf dieser allgemeinen Ebene sind diese Worte selbstverständlich und deshalb hätte auf sie eigentlich auch verzichtet