Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich

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Preis des aufrechten Gangs - Prodosh Aich

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ich kein gut möbliertes Zimmer. Das Praktikum bei der Zeitung ist für mich ein großer Gewinn in vielerlei Hinsicht. Das hat aber keinen direkten Bezug zu der Sozialgeschichte, die ich begonnen habe zu erzählen.

      Ich beziehe tatsächlich eine der billigsten möblierten Unterkünfte in Bonn. Monatlich 30,- DM mit Frühstück. Nicht weit von der Universität, in der Weberstraße, Weberstraße 96. Am späten Vormittag klingele ich an der Tür. Eine ältere Dame mit offenem Gesicht begrüßt mich freundlich: „Sie sind sicherlich Herr Aich. Herzlich willkommen!“ Ich war wirklich willkommen. Ich werde in das Wohnzimmer geführt. Es ist ein Altbau. Hohe Räume mit Stuckarbeiten, alte, nein, altgewordene Seidentapeten, alte Biedermeiermöbel, ein Flügel im Raum. Auf dem Flügel sitzt eine große, fette braune Katze. Später werde ich wissen, daß diese Katze eigentlich ein kastrierter Kater namens Mutius ist. Der Katzengeruch im Zimmer kann nicht von ihm allein kommen. Mutius hat noch neun Hausgenossen. Meine Wirtin heißt Marga Lehner. Sie legt Wert darauf, als Fräulein Lehner angeredet zu werden. Und sie war, im wahrsten Sinne des Wortes, eine Wirtin. Neugierig, fürsorglich, und was nicht so häufig vorkommt, gutmütig. Ich habe bewußt auf Adjektive vor diesen Eigenschaften verzichtet. Jedes Adjektiv würde diese Eigenschaften von Fräulein Lehner unzulässig relativieren.

      Sie bietet mir eine Tasse Tee an. Dann beschreibt sie das Zimmer. Es ist ein Zimmer, eigentlich ein Nebenzimmer eines großen Zimmers im ersten Stock. Zugang zum Nebenzimmer ist leider nur durch das große Zimmer möglich. Im großen Zimmer wohnt und arbeitet ein verhinderter Gymnasiallehrer, Otto Schuart, der von Nachhilfeunterricht lebt. Eigentlich sei es kein Zimmer, meint sie etwas verlegen, eher eine Schlafstelle. Es hat ein Fenster, ein Bett, einen kleinen Tisch und eine Waschgelegenheit für beide Zimmer. Kalt. Keine Heizung. Das große Zimmer hat einen Kohleofen. Der reicht für beide Räume. Sie zeigt mir das Zimmer während einer Pause des Nachhilfeunterrichts von Herrn Schuart.

      Es ist ein Einfamilienhaus eines Akademikers im einst verträumten Bonn. Eine halbhohe Treppe von der Straße zum Eingang. Lange breite Flure zum Treppenaufgang, und dann vorbei an der relativ breiten Treppe noch ein etwas schmalerer Flur bis hin zur Küche, die wenige Stufen niedriger liegt. Zwei Türen rechts vom Flur. Zum Wohnzimmer und zum Eßzimmer. Eine große Schiebetür dazwischen. Ein eher verwilderter Garten hinter dem Haus. Eine Treppe hinunter vom Kücheneingang zum Souterrain. Dienstmädchenzimmer, Bügelzimmer, Badezimmer, Toilette. Eine halbe Treppe aufwärts eine weitere Toilette. Sonst keine Toiletten, keine Bäder. Noch eine halbe Treppe hinauf zu meiner Schlafstelle. Ein Telefon an der Wand, rechts neben dem Eingang, des großen Zimmers. Noch Kinderzimmer an der linken Seite. Derselbe Grundriß im zweiten Stock.

      Nach dem Tod der verwitweten Mutter hat Fräulein Lehner kein ausreichendes geregeltes Einkommen mehr. Ihre einzige Schwester lebt nicht mehr. Außer Musizieren haben die beiden Kinder nichts Berufliches gelernt. Fräulein Lehner hat keinen ordentlichen Abschluß in Musik, wird noch eine Zeitlang in Schulen als Musiklehrerin gebraucht. Aber nicht als volle Kraft. Sie hätte es mir nicht übel genommen, wenn ich rückwärts wieder hinausgegangen wäre. Sie konnte noch nicht wissen, in welcher Not ich gewesen bin. Und ich war später dankbar, daß ich in solcher Not gewesen war, ansonsten hätte ich die Begegnung mit einem wertvollen Menschen verpaßt. Sie bleibt meine Wirtin bis ich 1958 heirate. Dann wird sie unsere Wirtin bis 1965. Als wir heiraten wird das große Zimmer mit dem Nebenzimmer im 2. Stockwerk frei. Wir dürfen dort einziehen. Beim Einzug schenkt sie uns eine Siamkatze. Die elfte im Haus. Bis 1973 werden wir mit Fräulein Lehner befreundet bleiben. Sie wird einige Höhen und Tiefen unseres Lebens mitgehen.

      Das Wintersemester 1957/1958, an der Bonner Universität hieß es „Winterhalbjahr“, ist für mich arbeitsreich, hektisch, ereignisreich und für meine weitere Entwicklung entscheidend. Ich belege weniger und gänzlich andere Veranstaltungsthemen. Philosophie von Descartes bis Kant, die philosophischen Strömungen seit Hegel, das Naturrecht und Staatsreform. Bei den Professoren Scheuner und Schätzel „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ und „Die wissenschaftlichen Grundlagen der Außenpolitik“.

      Im ISSF plane und gestalte ich das Jahresprogramm. Ich will etwas mehr machen als nur Mitgliedertreffen, gesellige Abende, Karneval–Ball und einige wenige Informationsveranstaltungen. Es ist eine bewegte Zeit in der internationalen Politik: die „Blockfreien“ mit Nasser, Nehru, Sukarno und Tito; Dag Hammersköld als Generalsekretär der Vereinten Nationen; Kongo, Lumumba; Absturz von Dag Hammersköld bei einem Flug über dem Kongo, Ermordung von Lumumba, der merkwürdige Aufstieg von Feldwebel Mobuto; der Indochina– und später der Vietnamkrieg und natürlich der „Kalte Krieg“ der beiden Machtblöcke. Also suche ich Referenten für regelmäßige öffentliche Veranstaltungen. Möglichst ohne Honorar, aber doch mit anschließendem informellen Zusammensein mit dem Referenten bei kleinem Umtrunk. Auch die Bonner Gruppe des ISSF hat ein kleines Budget.

      ISSF, Internationaler Studentenbund – Studentenbewegung für übernationale Föderation e.V. ist die Jugendorganisation von „World Association of World Federalists“ mit Sitz in Amsterdam und die Deutsche Sektion des „lnternational Students' Movement for United Nations“. Der ISSF hat ein illustres Ehrenpräsidium: Hermann J. Abs, Stefan Andres, Henry Brugmans, Wilhelm Grewe, Ulrich Haberland, Walter Hallstein, Eugen Kogon, Ernst Reuter, um nur einige Namen zu nennen. Auch die Bundesregierung unterstützt den ISSF mit Personal–, Sach– und Tagungsmitteln.

      Bekanntlich stellen sich nicht nur Verteilungsprobleme ein, wenn es um Geld geht. Verteilungsprobleme bringen Machtkämpfe und neue Hierarchien. Auch die Beschaffung von Mitteln hat ihre Tücken. Sie wirken sich auf die innere Verfassung einer Organisation aus. Und wer beschafft, bestimmt auch Zusammenhänge, die ich so noch nicht kannte. Im Deutsch–Indischen Verein in Hannover war es schwierig, überhaupt einen Vorstand zusammenzubekommen. Nicht so im ISSF in Bonn. Im Vorstand zu sein heißt: Türen außerhalb der Universität zu öffnen, Kontakte zu knüpfen mit Ministerialbürokraten, Parteifunktionären, Journalisten, Diplomaten. Wichtig für die spätere Karriere. Bonn ist dafür ein wichtiger Platz. Einige der früheren Vorstandsmitglieder sind bereits in Amt und Würden. Sie stehen dem Vorstand mit Rat und Tat zur Seite, wie die „alten Herren“ in den Studentenverbindungen, aber nur als graue Eminenzen ohne Verpflichtungen eines „alten Herren“. Der Begriff „Seilschaften“ ist noch nicht kreiert.

      Bei der Programmgestaltung kommt es zu Differenzen und Konflikten. Nicht so sehr über den Inhalt. Denn die bisherige Arbeit beschränkte sich fast auf Organisation geselliger Begegnungen. Es ist der Kölner ISSF–Gruppe beispielsweise bekannt, daß die Bonner Gruppe eine leistungsfähige Musikanlage besitzt. Also werde ich samt der Anlage und Schallplatten nach Köln zum Nikolausabend eingeladen. Nein, der Konflikt entsteht nicht über politische Inhalte. Für die beiden Stellvertreter bin ich zu initiativ und zu aktiv. Ich bin drauf und dran, den älteren Mitgliedern die Schau zu stehlen. Erst jetzt erfahre ich, daß ich ein zufälliger Kandidat für den Vorsitz gewesen bin. Zwei konkurrierende Fraktionen sind fast gleich stark. Beide Fraktionen hofften auf ihr Geschick, um aus dem Hintergrund die Drähte zu ziehen. Ich ließ mich schon immer überzeugen, nicht aber steuern. Um mich zu überzeugen, daß sich der ISSF von den anderen politischen Gruppen an der Universität nicht unterscheiden müßte und sich deshalb nicht hauptsächlich internationalen Problemen zuwenden sollte, reichen die Argumente nicht. Auch der Hinweis, daß der ISSF in der Hauptsache auf die Zuschüsse der Bundesregierung angewiesen ist, überzeugt mich nicht. So kommt es, wie es kommen muß.

      Gegen Ende des Semesters ist die Mitgliederversammlung fällig, aber ohne Wahlen. In dieser Mitgliederversammlung wird ein Dringlichkeitsantrag zu meiner Abwahl eingebracht. Der Antrag muß inhaltlich begründet werden. Die Diskussion über diesen Antrag beansprucht Stunden. Ohne Ergebnis, d. h. ohne Abstimmung. Die Mitgliederversammlung muß unterbrochen werden. Nun sind die grauen Eminenzen dran. In mehreren Gesprächen überzeugen sie mich, den Konflikt einvernehmlich beizulegen. Zwei Wochen später wird die Mitgliederversammlung fortgesetzt. Ich trete vom Vorsitz zurück. Dieser Rücktritt ist eine verschleierte Abwahl. Ich mache mir nichts vor. Ich falle, so scheint es mir, in ein tiefes Loch.

      *****

      Wie

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