Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Stefan Zweig

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Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam - Stefan Zweig

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homo per se, Mann für sich allein, bis in die letzte Konsequenz. Gegenüber den Politikern, den Führern und Verführern zur einseitigen Leidenschaft hat der Künstler, der Geistmensch im Sinne Erasmus', die Aufgabe, der Verstehend-Vermittelnde zu sein, der Mann des Maßes und der Mitte. Er hat an keiner Front zu stehen, sondern einzig und allein gegen den gemeinsamen Feind allen freien Denkens: gegen jeden Fanatismus; nicht abseits von den Parteien, denn mitzufühlen mit allem Menschlichen ist der Künstler berufen, sondern über ihnen, au-dessus de la mêlée, die eine Übertreibung bekämpfend und die andere, und bei allen denselben unseligen, unsinnigen Haß.

      Diese Haltung des Erasmus, diese seine Unentschiedenheit oder besser sein Sich-nicht-entscheiden-Wollen haben die Zeitgenossen und Nachfahren höchst simpel Feigheit genannt und den klarsinnig Zögernden als lau und wetterwendisch verhöhnt. In der Tat: Erasmus ist nicht wie ein Winkelried gestanden mit offener Brust gegen die Welt, dies furchtlos Heroische war nicht seine Art. Er hat sich vorsichtig zur Seite gebogen und verbindlich geschwankt wie ein Rohr nach rechts und links, aber nur, um sich nicht brechen zu lassen und immer wieder sich aufzurichten. Er hat sein Bekenntnis zur Unabhängigkeit, sein »nulli concedo«, nicht stolz vor sich her getragen wie eine Monstranz, sondern wie eine Diebslaterne unter dem Mantel versteckt; in Schlupfwinkeln und auf Schleichwegen hat er sich zeitweilig geduckt und gedeckt während der wildesten Zusammenstöße des Massenwahnes; aber – dies das Wichtigste – er hat sein geistiges Kleinod, seinen Menschheitsglauben, unversehrt heimgebracht aus dem furchtbaren Haßorkan seiner Zeit, und an diesem kleinen glimmenden Docht konnten Spinoza, Lessing und Voltaire und können alle künftigen Europäer ihre Leuchte entzünden. Als der einzige seiner geistigen Generation ist Erasmus der ganzen Menschheit treuer geblieben als einem einzelnen Clan. Abseits vom Schlachtfeld, keiner Armee angehörig, von beiden befehdet ist er gestorben, einsam, allein. Einsam, jedoch – dies das Entscheidende – unabhängig und frei.

      Die Geschichte aber ist ungerecht gegen die Besiegten. Sie liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat: so hat sie an diesem stillen Diener des Humanen fast verächtlich vorbeigesehen. Auf dem Riesenbild der Reformation steht Erasmus im Hintergrund. Dramatisch erfüllen die anderen ihr Schicksal, all diese Besessenen ihres Genius und Glaubens, Hus erstickt in der lodernden Flamme, Savonarola am Brandpfahl in Florenz, Servet ins Feuer gestoßen von Calvin, dem Zeloten. Jeder hat seine tragische Stunde: Thomas Münzer zwickt man mit glühenden Zangen, John Knox nagelt man an seine Galeere, Luther, breitbeinig in die deutsche Erde gestemmt, dröhnt gegen Kaiser und Reich sein »Ich kann nicht anders«. Thomas Morus und John Fisher drückt man das Haupt nieder auf den mörderischen Block, Zwingli liegt, mit dem Morgenstern erschlagen, auf dem Blachfeld von Kappel, – unvergeßliche Gestalten sie alle, wehrhaft in ihrer gläubigen Wut, ekstatisch in ihrem Leiden, groß in ihrem Geschick. Hinter ihnen brennt die verhängnisvolle Flamme des religiösen Wahnes ins Weite, die verwüsteten Burgen des Bauernkrieges zeugen lästernd für den von jedem Zeloten anders mißverstandenen Christus, die zerstörten Städte, die geplünderten Gehöfte des dreißigjährigen, des hundertjährigen Krieges, diese apokalyptischen Landschaften, sie klagen die irdische Unvernunft des Nicht-nachgeben-Wollens vor den Himmeln an. Mitten aber aus diesem Getümmel, ein wenig hinter den großen Kapitänen des Kirchenkrieges und deutlich abseits von ihnen allen, blickt das feine, von leichter Trauer überschattete Gesicht des Erasmus. Er steht an keinem Marterpfahl, seine Hand ist mit keinem Schwert bewehrt, keine heiße Leidenschaft verzerrt sein Gesicht. Aber klar hebt sich das Auge, das blauleuchtende und zarte, das Holbein unvergänglich gemalt, und blickt durch all diesen Tumult der Massenleidenschaften herüber in unsere nicht minder aufgewühlte Zeit. Eine gelassene Resignation umschattet seine Stirne – ach, er kennt diese ewige Stultitia der Welt! –, doch ein leichtes, ganz leises Lächeln der Sicherheit spielt um seinen Mund. Er weiß, der Erfahrene: es ist der Sinn aller Leidenschaften, daß sie einmal ermüden. Es ist das Schicksal jedes Fanatismus, daß er sich selbst überspielt. Die Vernunft, sie, die ewige und still geduldige, kann warten und beharren. Manchmal, wenn die anderen trunken toben, muß sie schweigen und verstummen. Aber ihre Zeit kommt, immer kommt sie wieder.

      Blick in die Zeit

      Der Übergang des fünfzehnten in das sechzehnte Jahrhundert ist eine Schicksalsstunde Europas und in ihrer dramatischen Gedrängtheit nur der unseren vergleichbar. Mit einem Schlage erweitert sich der europäische Raum ins Welthafte, eine Entdeckung jagt die andere, und innerhalb weniger Jahre wird durch die Verwegenheit eines neuen Seefahrergeschlechts nachgeholt, was Jahrhunderte durch ihre Gleichgültigkeit oder Mutlosigkeit versäumten. Wie an einer elektrischen Uhr springen die Zahlen: 1486 wagt sich Diaz als erster Europäer bis an das Kap der Guten Hoffnung, 1492 erreicht Kolumbus die amerikanischen Inseln, 1497 Sebastian Cabot Labrador und damit das amerikanische Festland. Ein neuer Kontinent gehört dem Bewußtsein der weißen Rasse, aber schon segelt Vasco da Gama, abstoßend von Sansibar, nach Calicut und eröffnet den Seeweg nach Indien, 1500 entdeckt Cabral Brasilien, endlich, von 1519 bis 1522, unternimmt Magalhães die denkwürdigste, die krönende Tat, die erste Reise eines Menschen um die ganze Erde, von Spanien nach Spanien. Damit ist Martin Behaims »Erdapfel« von 1490, der erste Globus, bei seinem Erscheinen als unchristliche Hypothese und Narrenwerk verlacht, für richtig erkannt, die kühnste Tat hat den verwegensten Gedanken bekräftigt. Über Nacht ist für die denkende Menschheit der runde Ball, auf dem sie bisher ungewiß und bedrückt als auf einer terra incognita durch den Sternenraum kreiste, zu einer erfahrbaren, durchfahrbaren Wirklichkeit geworden, das Meer, bishin bloß eine im Mythischen endlos wogende blaue Wüste, ein durchmessenes und meßbares, ein der Menschheit dienstbares Element. Mit einem Ruck erhebt sich der europäische Wagemut, jetzt gibt es keine Pause, kein Atemholen mehr in dem wilden Wettlauf um die Entdeckung des Kosmos. Jedesmal wenn die Kanonen von Cádiz oder Lissabon einer heimkehrenden Galeone den Willkomm bieten, strömt eine neugierige Menge an den Hafen, andere Botschaft von neuentdeckten Ländern zu vernehmen, niegesehene Vögel, Tiere und Menschen zu bewundern; erschauernd blicken sie auf die riesigen Frachten von Silber und Gold, nach allen Windrichtungen läuft die Botschaft durch Europa, das über Nacht dank dem geistigen Heldentum seiner Rasse Mittelpunkt und Herrscher des ganzen Weltalls geworden ist. Fast gleichzeitig aber durchforscht Kopernikus die unbetretenen Bahnen der Gestirne über der plötzlich erhellten Erde, und all dies neue Wissen dringt vermöge der neuentdeckten Buchdruckerkunst mit gleichfalls bisher unbekannten Geschwindigkeiten in die entlegensten Städte und verlorensten Weiler des Abendlands: zum erstenmal hat Europa seit Jahrhunderten ein beglückendes und daseinssteigerndes Kollektiverlebnis. Innerhalb einer einzigen Generation haben die Urelemente menschlicher Anschauung, haben Raum und Zeit völlig andere Maße und Werte bekommen – nur unsere Jahrhundertwende mit der ebenso plötzlich sich überbietenden Raum- und Zeitverkürzung durch Telephon, Radio, Auto und Flugzeug hat eine gleiche Umwertung des Lebensrhythmus durch Erfindung und Entdeckung erfahren.

      Eine derart plötzliche Erweiterung des äußeren Weltraums muß selbstverständlich eine gleich heftige Umschaltung im Seelenraum zur Folge haben. Jeder einzelne ist unvermutet genötigt, in andern Dimensionen zu denken, zu rechnen, zu leben; aber ehe das Gehirn sich der kaum faßbaren Verwandlung angepaßt hat, verwandelt sich schon das Gefühl – eine ratlose Verwirrung, halb Angst, halb enthusiastischer Taumel, ist immer die erste Antwort der Seele, wenn sie ihr Maß plötzlich verliert, wenn all die Normen und Formen, auf denen sie als auf einem bisher Beständigen fußte, gespenstig unter ihr weggleiten. Über Nacht ist alles Gewisse fraglich geworden, alles Gestrige wie jahrtausendalt und abgelebt; die Erdkarten des Ptolemäus, zwanzig Geschlechtern ein unumstößliches Heiligtum, werden durch Kolumbus und Magalhães Kindergespött, die gläubig seit Jahrtausenden nachgeschriebenen und als fehllos bewunderten Werke über Weltkunde, Astronomie, Geometrie, Medizin, Mathematik ungültig und überholt, alles Gewesene welkt dahin vor dem heißen Atem der neuen Zeit. Nun ist es zu Ende mit all dem Kommentieren und Disputieren, es stürzen die alten Autoritäten als zertrümmerte Götzen der Ehrfurcht, es fallen die papiernen Türme der Scholastik, der Ausblick wird frei. Ein geistiges Fieber nach Wissen und Wissenschaft entsteht aus der plötzlichen Durchblutung des europäischen Organismus mit neuem Weltstoff, der Rhythmus beschleunigt sich. Entwicklungen, die

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