Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam. Stefan Zweig

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Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam - Stefan Zweig

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sechsundzwanzig Jahren entrinnt er dem Kloster, dessen Enge und Engstirnigkeit ihm unerträglich geworden. Doch – erste Probe seiner diplomatischen Geschicklichkeit – er entläuft seinen Vorgesetzten nicht als ein eidbrüchiger Mönch, sondern läßt sich nach geheimen Verhandlungen zum Bischof von Cambrai berufen, um ihn auf seiner Reise nach Italien als lateinischer Sekretär zu begleiten; in demselben Jahre, da Kolumbus Amerika, entdeckt sich der Klostergefangene Europa, seine zukünftige Welt. Glücklicherweise verzögert der Bischof seine Reise, und so hat Erasmus gemächlich Zeit, das Leben nach seiner Façon zu genießen, er muß keine Messen lesen, kann an der großen, wohlbestellten Tafel sitzen, kluge Menschen kennenlernen, sich mit Leidenschaft dem Studium der lateinischen und kirchlichen Klassiker hingeben und außerdem an seinem Dialog »Antibarbari« schreiben: dieser Name seines Erstlingswerkes könnte übrigens auf allen Titelblättern seiner Werke stehen. Unbewußt hat er den großen Feldzug seines Lebens gegen Unbildung, Torheit und traditionelle Überheblichkeit begonnen, indem er seine Sitten verfeinert, seine Kenntnisse erweitert; aber leider, der Bischof von Cambrai gibt seine Reise nach Rom auf, und die schöne Zeit soll plötzlich enden, ein lateinischer Secretarius ist jetzt nicht mehr vonnöten. Nun sollte der ausgeborgte Mönch Erasmus eigentlich gehorsam in sein Kloster zurückkehren. Doch jetzt, da er das süße Gift der Freiheit einmal in sich eingetrunken, will er nicht und nie mehr davon lassen. So heuchelt er ein unwiderstehliches Verlangen nach den höheren Graden geistlicher Wissenschaft, er bedrängt mit der ganzen Leidenschaft und Energie seiner Klosterangst und gleichzeitig mit der rasch herangereiften Kunst seiner Psychologie den gutmütigen Bischof, er möge ihn mit einem Stipendium nach Paris schicken, damit er dort den Doktorgrad der Theologie erwerben könne. Endlich gibt der Bischof ihm seinen Segen und, was Erasmus wichtiger ist, eine schmale Börse als Stipendium, und vergebens wartet der Prior des Klosters auf die Rückkehr des Ungetreuen. Aber er wird sich gewöhnen müssen, Jahre und Jahrzehnte auf ihn zu warten, denn längst hat Erasmus sich seinen Urlaub vom Mönchstum und jedem andern Zwang für das ganze Leben selbstherrlich erteilt.

      Der Bischof von Cambrai hat dem jungen geistlichen Studenten die übliche Börse gewährt. Aber diese Börse ist verzweifelt schmal, ein Studentenstipendium für einen dreißigjährigen Mann, und mit bitterem Spott tauft Erasmus den sparsamen Gönner seinen »Antimaecenas«. Schwer gedemütigt muß der rasch an die Freiheit Gewöhnte und am Bischofstisch Verwöhnte im domus pauperum, im berüchtigten Collège Montaigu Hausung nehmen, das ihm durch seine asketischen Regeln und seine strenge geistliche Führung wenig behagt. Im Quartier Latin gelegen, auf dem Mont Saint-Michel (etwa bei dem heutigen Panthéon), schließt dieses Zuchthaus des Geistes den jungen, lebensneugierigen Studenten eifersüchtig von dem heitern Treiben der weltlichen Kameraden vollkommen ab: wie von einer Sträflingszeit spricht er von diesem theologischen Gefängnis seiner schönsten Jugend. Erasmus, der von Hygiene überraschend moderne Vorstellungen hat, fällt in seinen Briefen von einer Klage in die andere: die Schlafräume seien ungesund, die Wände eiskalt, kahl getüncht und fühlbar nahe den Latrinen, niemand könne lange in diesem »Essigkollegium« wohnen, ohne todkrank zu werden oder zu sterben. Auch die Nahrung behagt ihm nicht, die Eier oder das Fleisch sind verfault, der Wein verdorben und die Nacht erfüllt von unrühmlichem Kampf gegen das Ungeziefer. »Du kommst von Montaigu?« spottet er später in seinen Kolloquien. »Zweifellos hast du das Haupt mit Lorbeeren bedeckt? – Nein, mit Flöhen.« Die damalige Klosterzucht schreckt überdies nicht zurück vor körperlichen Züchtigungen, und was zwanzig Jahre im gleichen Haus ein fanatischer Asket wie Loyola gesonnen ist, der Willenserziehung wegen gelassen zu ertragen, die Rute und den Bakel, widerstrebt einer nervösen und unabhängigen Natur wie Erasmus. Auch der Unterricht ekelt ihn an: rasch lernt er den Geist der Scholastik mit seinem abgestorbenen Formalismus, seinen schalen Talmudismen und Spitzfindigkeiten für immer verabscheuen, der Künstler in ihm empört sich – nicht so heiter ergötzlich wie später Rabelais, aber mit der gleichen Verachtung gegen die Vergewaltigung des Geistes in diesem Prokrustesbett. »Niemand kann die Mysterien dieser Wissenschaft begreifen, der irgend einmal Verkehr mit den Musen oder Grazien gepflogen hat. Alles, was Du von bonae litterae erworben hast, mußt Du hier verlieren, und was Du aus den Quellen des Helikon getrunken, wieder von Dir geben. Ich tue mein Bestes, nichts Lateinisches, nichts Anmutiges oder Geistreiches zu sagen, und mache schon derartige Fortschritte darin, daß sie mich hoffentlich einmal als den ihren anerkennen werden.« Schließlich gibt ihm eine Krankheit den langersehnten Vorwand, aus dieser verhaßten Galeere des Körpers und des Geistes unter Verzicht auf den theologischen Doktorgrad zu entfliehen. Erasmus kehrt zwar nach kurzer Erholung wieder nach Paris zurück, aber nicht mehr in das »Essigkollegium«, das »Collège vinaigre«, sondern bringt sich lieber fort, indem er als Hauslehrer und Nachhelfer junge vermögende Deutsche und Engländer unterrichtet: die Selbständigkeit des Künstlers hat in dem Priester begonnen.

      Aber Selbständigkeit ist für den geistigen Menschen in der noch halb mittelalterlichen Welt gar nicht vorgesehen. In deutlicher Stufenreihe sind alle Stände abgegrenzt, die weltlichen und die geistlichen Fürsten, die Kleriker, die Zünfte, die Soldaten, die Beamten, die Handwerker, die Bauern, jeder einzelne Stand eine starre Gruppe und sorgfältig gegen jeden Eindringling vermauert. Für den geistigen, für den schaffenden Menschen, für den Gelehrten, den freien Künstler, den Musiker ist in dieser Weltordnung noch kein Raum vorhanden, denn die Honorare, die späterhin Unabhängigkeit gewähren, sind noch nicht erfunden. Dem geistigen Menschen bleibt also keine andere Wahl, als irgendeinem dieser herrschenden Stände zu dienen, er muß Fürstendiener oder Gottesdiener werden. Da die Kunst noch nicht als selbständige Macht gilt, muß er Gunst suchen bei den Mächtigen, er muß Günstling werden eines gnädigen Herrn, sich hier eine Pfründe erbetteln und dort eine Pension, muß sich – bis anno Mozart und Haydn – ducken im gemeinen Kreise der Dienerschaft. Er muß, will er nicht verhungern, den Eitlen schmeicheln mit Dedikationen, die Ängstlichen durch Pamphlete schrecken, den Reichen nachstellen mit Bettelbriefen; unablässig und ohne Sicherheit, bei einem Gönner oder bei vielen, erneuert sich für ihn dieser unwürdige Kampf um das tägliche Brot. Zehn oder zwanzig Geschlechter von Künstlern haben so gelebt, von Walther von der Vogelweide bis zu Beethoven, der als erster von den Mächtigen herrisch sein Künstlerrecht fordert und rücksichtslos nimmt. Dieses Sichkleinmachen, Sichanschmiegen und Sichducken hat allerdings einem so überlegenen und ironischen Geist wie Erasmus kein großes Opfer bedeutet. Er durchschaut schon früh das Trugspiel der gesellschaftlichen Welt; weil nicht rebellischer Natur, nimmt er ihre geltenden Gesetze ohne Klage hin und setzt seine Mühe nur daran, sie auf geschickte Weise zu durchbrechen und zu umgehen. Aber sein Weg zum Erfolg bleibt desungeachtet langwierig und wenig beneidenswert: bis zu seinem fünfzigsten Jahr, da dann ihrerseits die Fürsten um ihn werben, da die Päpste und Reformatoren sich bittend an ihn wenden, da die Drucker ihn bestürmen und die Reichen sich's zur Ehre machen, ihm ein Geschenk ins Haus zu schicken, lebt Erasmus von geschenktem, ja erbetteltem Brot. Noch mit ergrauenden Haaren muß er sich beugen und verneigen: zahllos sind seine devoten Dedikationen, seine Schmeichelepisteln, sie füllen einen Großteil seiner Korrespondenz und würden, für sich gesammelt, einen geradezu klassischen Briefsteller für Supplikanten abgeben, mit so großartiger List und Kunst stilisiert er seine Betteleien. Aber hinter diesem oft bedauerten Mangel an Charakterstolz verbirgt sich bei ihm ein entschlossener, großartiger Wille zur Unabhängigkeit. Erasmus schmeichelt in Briefen, um in seinen Werken besser wahr sein zu können. Er läßt sich fortwährend beschenken, aber von keinem einzigen kaufen, er weist alles zurück, was ihn dauernd an eine besondere Person binden könnte. Obschon international berühmter Gelehrter, den Dutzende von Universitäten an ihr Katheder fesseln möchten, steht er lieber als bloßer Korrektor in einer Druckerei, bei Aldus in Venedig, oder er wird Hofmeister und Reisemarschall von blutjungen englischen Aristokraten, oder bloß Schmarotzer bei reichen Bekannten, aber all das immer nur genauso lange, als es ihm gefällt, und niemals für dauernde Frist an einem Ort. Dieser hartnäckig entschlossene Wille zur Freiheit, dies Niemandem-dienen-Wollen hat Erasmus zeitlebens zum Nomaden gemacht. Unablässig ist er auf der Wanderschaft durch alle Länder, bald in Holland, bald in England, bald in Italien, Deutschland und der Schweiz, der Meistreisende und Meistgereiste unter den Gelehrten seiner Zeit, nie ganz arm, nie recht reich, immer, wie Beethoven, »in der Luft lebend«, aber dies Schweifen und Vagieren ist seiner philosophischen Natur teurer als Haus und Heim. Lieber kleiner Sekretär eines Bischofs bleiben für eine Zeit, als selbst Bischof zu

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