Nesthäkchen im weißen Haar. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen im weißen Haar - Else Ury страница 10
Mit dem letzten Bissen schwirrte alles wieder auseinander, ein jedes zu seiner Pflicht. Auch die Wege der beiden Kusinen trennten sich. Gerda Ebert arbeitete in einem unweit gelegenen Säuglingsheim, um dort die Säuglingshygiene zu studieren. Marietta eilte nun endlich in das gegenüberliegende Gebäude zu ihren Hortkindern.
Die hatten die Hoffnung auf Tante Jettas Kommen schon aufgegeben. Kindern geht ja jeder Zeitbegriff ab. Tante Martha, eine erst siebzehnjährige Hortlerin, die noch das Abc der Kinderfürsorge erlernte, wußte nicht viel mit ihnen anzufangen. Sie hatte jedem etwas zu spielen gegeben und verlangte nun, daß sich die kleinen Jungen und Mädchen möglichst leise mit ihrem Baukasten, Püppchen oder Hottepferdchen beschäftigen sollten, um die großen, schulpflichtigen Kinder, die am Nachmittag hier ihre Schularbeiten machten, nicht zu stören. Im Grunde aber wollte sie selbst nicht gestört sein. Sie hatte eine Weihnachtsarbeit, eine bunte Wollhäkelei, bei der man zählen mußte, vorgenommen. Jede Frage der ihr anvertrauten Küken kam ihr störend in die Quere und wurde dementsprechend nicht gerade freundlich beantwortet. Die Kinder, des sich Alleinbeschäftigens überdrüssig, suchten daher ihr Vergnügen auf eigene Faust. Paulchen nahm dem Zeter schreienden Käthchen die Puppe fort und sprang damit johlend im Zimmer umher. Gustel warf dafür Paulchens schön gebauten Turm mit lautem Krach um, so daß sich jetzt eine lebhafte Prügelei zwischen dem kleinen Puppenräuber und dem Turmzerstörer ergab. Lenchen, mit dem gelben Zigarrenzopfband, wollte den Frieden vermitteln, geriet aber dabei mit in den Tumult hinein. Und die übrigen beteiligten sich aus Freude am Lärmen, und weil sie sonst auch nicht gerade Besseres zu tun hatten, ebenfalls an dem Radau. Tante Martha, die ihre Zählerei nun doch aufgeben mußte, rief vergebens dazwischen: »Kinder, wollt ihr wohl gleich ruhig sein!« Eher kann man einem Wasserfall befehlen, innezuhalten, als einer losgelassenen Kinderschar. Die Großen wurden natürlich auch nicht länger von ihren Schularbeiten gefesselt, sondern nahmen ebenfalls Partei und rauften lustig mit. Ein ohrenzerreißender Lärm empfing die gerade in diesem Moment eintretende Marietta.
Die stand zuerst starr. Dann aber griff sie auf gut Glück eins aus der wilden Horde heraus – es war Paulchen mit dem Schmutznäschen – und wischte ihm mit ihrem eigenen Batisttuch Tränen und Näschen ab. »Ja, Kinder, was habt ihr denn heute? Ihr seid doch sonst so lieb«, sagte sie mit ihrer weichen, fremdklingenden Stimme. Dieselbe ging in den Wogen der allgemeinen Zügellosigkeit ebenso unter wie Tante Marthas verzweifelte Drohungen. Aber plötzlich ein Jubellaut, mitten aus dem wüsten Getobe – wie ein verirrter Vogelton bei Gewitter – »Tante Jetta – Tante Jetta ist da!« Man hatte sie entdeckt. Im Augenblick war das Bild ein anderes. Die kleinen Raufbolde ließen voneinander ab und umstrickten die endlich Erschienene zärtlich mit ihren Ärmchen. Lenchen mit dem Zigarrenbändchen kletterte sogar auf den Stuhl, um heranzukommen.
Marietta strich beruhigend über die erhitzten Kindergesichter. »So, nun setzt euch mal erst brav auf eure Plätze und dann erzählt mir, warum ihr eben so unartig wart.«
»Die olle Käthe brüllt immer jleich« – »nee, der Paul hat« – – – »und der Gustel hat mir meinen schönen Turm janz« – – »und Karle hat mir so doll jeschubbst – – –« so ging das wieder durcheinander.
»Aber Friedel, so heißt es doch nicht, wie heißt es?« Marietta war der deutschen Sprache jetzt so mächtig, daß ihrem Ohr das falsche Sprechen mancher Kinder weh tat.
»Der Karle hat mir so doll jestoßen«, verbesserte sich der kleine Blondkopf.
»Lenchen, sag' du unserem Friedelchen, wie es richtig heißt.«
»Karl hat mich so doll gestoßen.« Trotz des gelben Zigarrenbändchens im Zopf sprach Lenchen ein gutes Deutsch. Sie war von besserem Herkommen. Der Vater war Buchhalter gewesen, früh gestorben und die Mutter in kümmerlichen Verhältnissen zurückgeblieben.
»Mit den Gören ist heute kein Auskommen, Fräulein Jetta, sie müßten alle eine Stunde in die Ecke gestellt werden«, beklagte sich Tante Martha empört.
Marietta warf einen verständnisvollen Blick auf die bunte Häkelei der jungen Dame. Ehe sie noch antworten konnte, rief aber einer von den großen Jungen: »Pfui, Tante Martha, weißte, was du bist? 'ne olle Pfennigklatsche!«
»Tante Martha ist eine Pfennigklatsche – Tante Martha is 'ne olle Petze!« Aufs neue schien das Gejohle losgehen zu wollen.
Stillschweigend, ohne ein Wort zu sagen, griff Marietta nach ihrem Lederhütchen.
»Nich gehen! – Tante Jetta soll mit uns spielen!« Selbst die ärgsten Schreihälse wurden sofort zahm und verlegten sich aufs Betteln.
»Ihr seid mir heute zu unartig, Kinder«, sagte diese traurig.
»Wir wollen ganz artig sein! Liebe, liebe Tante Jetta, bleibe doch bei uns!« Das war Lenchen.
Mariettas weiches Herz vermochte all den zärtlich bittenden Stimmen nicht standzuhalten. Sie hängte den Hut wieder an den Nagel, verlangte aber als gute Pädagogin: »Fritz, entschuldige dich erst bei Tante Martha wegen des häßlichen Wortes.« Dies geschah zur geheimen Belustigung der beiden jungen Damen, indem Fritz Tante Martha treuherzig die tintenbeschmierte Hand reichte und dabei die ehrenvolle Erklärung abgab: »Tante Martha, du bist keine Pfennigklatsche nich!«
Nun saßen sie alle, die Kleinen, mit gefalteten Händchen so brav auf ihren Plätzen, als ob sie niemals wie eine wilde Horde getobt hätten, und blickten erwartungsvoll auf Marietta.
»Kleben wir wieder bunte Ketten für den Weihnachtsbaum, Tante Jetta?«
»Au ja – und Goldkörbchen flechten wir wieder und Silber-Netze – – –«
Aber Tante Marietta schüttelte ernst den Kopf. »Nein, Kinder, heute habt ihr es nicht verdient, daß wir Weihnachtsarbeiten machen. Das ist eine Belohnung für artige Kinder. Ketten und Körbe von unartigen Kindern hängt der Weihnachtsmann gar nicht an den Tannenbaum an. Wir werden heute an unserer Puppenwohnung weiter arbeiten.«
»Och, die olle Puppenwohnung«, wollte Ingeborg wieder Einwendungen machen, aber ein ernster Blick von Tante Jetta ließ sie sofort verstummen. »So, Kinder, nun räumt erst euer Spielzeug ein und legt es wieder ordentlich in den Schrank, ehe wir