Nesthäkchen im weißen Haar. Else Ury

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Nesthäkchen im weißen Haar - Else Ury

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nachher ein paar Sätze diktieren, so schlechte Arbeiten dürfen meine Kinder nicht schreiben. Wie geht's dem Vater, Lorchen? Haben ihn die Früchte erquickt, ja? Nun schreibe mal besonders schön, damit der kranke Vater sich freuen kann und schnell gesund wird.« So schritt Marietta von einem ihrer kleinen Schützlinge zum andern, jeden mit einem freundlichen Wort ermunternd.

      Woran lag es bloß, daß die Kinder bei Fräulein Marietta stets brav und lieb waren und sie selbst immer Ärger mit ihnen hatte? fragte sich Fräulein Martha. Kinder waren sicher auch ungerecht, genau wie Große. Sie mochten sie wohl nicht so gut leiden. Daß sie selbst dazu die Veranlassung gab, indem sie ihre Pflichten nicht ernst genug nahm und sich nicht voll dabei einsetzte, das sagte sich das junge Mädchen nicht.

      Wirklich, es war merkwürdig, wie die Kinder jetzt alle voll Eifer dabei waren, an der Puppenwohnung zu helfen. Je nach Alter und Geschicklichkeit wurden sie dabei beschäftigt. Die Puppenwohnung selbst, aus Pappe, durch Pappwände in Zimmer und Küche, ja sogar in zwei Stockwerke abgeteilt, stand bereits im Rohbau. Jetzt galt es Tapeten zu malen. Lenchen und Ingeborg bekamen das Wohnzimmer zugewiesen. Auf die Rückseite von mattem Goldpapier durften sie leichte Ornamente, die Tante Jetta ihnen vorzeichnete, malen, ausschneiden und auf dunkelgrünes Glanzpapier kleben. Das gab eine herrliche Tapete. Zwei kleinere, Gustel und Käthchen, hatten die Schlafzimmertapete zu liefern. Diese war einfacher. Weiße Streifen wurden in regelmäßigen Abständen auf himmelblaues Papier geklebt. Die drei kleinsten flochten bunte Papierteppiche für die Zimmer. Paulchen malte das Pappdach mit ziegelroten Steinen an und Karlchen tuschte braune Türen. Die Großen arbeiteten voll Eifer, ihre Schularbeiten zu vollenden, um ebenfalls helfen zu können. Die Jungen machten aus Zigarrenkisten mit dem Laubsägekasten allerlei nettes Mobiliar, Tisch, Stühle, Bettstellen. Während die größeren Mädel auf Kongressstoff Gardinen, Tischdecke und Bettdecken stickten. Voll emsiger Geschäftigkeit waren sie alle dabei, die Kleinen, mit feuerroten Bäckchen arbeiteten sie. Nichts durfte zu dem Puppenhaus gekauft werden, alles wurde selbst fabriziert. Ein Lob von Tante Jetta, ein anerkennendes Streicheln der blonden und dunklen Köpfchen war der schönste Lohn.

      »So, Fräulein Martha, jetzt ist ja alles hier eifrig bei der Arbeit, nun werde ich mich mal erst zu meinen Krippenkindern begeben«, wandte sich Marietta an die junge Helferin. »Ich komme bald wieder zu euch, Kinder, wer inzwischen am schönsten gearbeitet hat, bekommt eine Belohnung.« Damit verließ Marietta den Raum.

      Die Laufkrippe in dem Zimmer gegenüber gehörte ebenfalls zu ihrem Reiche. Hier waren die Ein- und Zweijährigen, die zum Teil schon auf eigenen Füßchen einhertrappelten, aber der eigentlichen Säuglingskrippe bereits entwachsen waren. Als Schülerin der sozialen Frauenschule hatte sich Marietta in allen Abteilungen des Hortes auszubilden. Aber da sie älter war als die jungen Hortlerinnen, und da dieselben alsbald merkten, daß sie die Sache besser beherrschte als sie selbst, räumten sie ihr eine leitende Stellung ein. Marietta in ihrer Bescheidenheit machte niemals einen falschen Gebrauch davon. Sie übernahm nicht die Rechte, sondern nur die Pflichten und die Verantwortung einer Leiterin.

      Auch in dem großen, saalartigen Zimmer, der Laufkrippe, wurde Mariettas Erscheinen jubelnd begrüßt. »Tatta Setta – Tatta Setta!« – aus dem großen Laufgitter, das die Mitte des Raumes einnahm, tappelte es auf unsicheren Beinchen, kroch es auf allen vieren, angelte es mit den Ärmchen jauchzend der Eintretenden entgegen. Die ergriff eins der zappelnden kleinen Dinger und schwenkte es zur allgemeinen Erheiterung in der Luft umher. Dann gaben alle Kleinen Patschhändchen und sagten guten Tag, wobei manche schon einen richtigen Knicks machten, ganz gleich, ob Junge oder Mädel. Die meisten der kleinen Gesellschaft trieben die Höflichkeit so weit, daß sie sich gleich dabei wieder auf die Erde setzten.

      Ein etwas größerer Junge saß abseits von den anderen in einer Ecke. Er hatte sich nicht an den allgemeinen Empfangsfeierlichkeiten beteiligt. Er hatte einen auffallend großen Kopf und sah ziemlich verständnislos drein. Aber als Marietta jetzt zu ihm trat, ihm über die Haare fuhr und liebevoll fragte: »Ottchen, wer bin ich?« Da ging es über das teilnahmslose Gesichtchen wie aufzuckendes Verständnis. »Sette«, sagte er mühsam. Es war das einzige Wort, das der bereits Vierjährige bisher gelernt hatte. Er gebrauchte es sowohl für Marietta als auch für die Kinderserviette, die man ihm zu den Mahlzeiten umband. Beides war ihm gleich wichtig, die einzigen Lichtpunkte in seinem Dämmerleben. Ottchen war geistig zurückgeblieben und daher noch in der Laufkrippe, der er seinen Jahren nach schon entwachsen war. »Unser kleiner Idiotenjüngling« nannten ihn die jungen Helferinnen oder auch »unser Wasserköpfchen«. Marietta aber mochte das nicht hören. Ihrem warmen Herzen tat das arme Kind, das nur zum Vegetieren auf der Welt war, leid. Unermüdlich versuchte sie, die schlummernden Geisteskräfte in ihm zu wecken, mit dem Erfolg, daß er jetzt das erste Wort »Sette« sprach. Augenblicklich hatte Ottchen die Entrüstung seiner Pflegerinnen erregt. Er war noch nicht stubenrein und mußte wieder frisch behost werden.

      Krampfartiges Husten aus dem Laufgitter ließ Marietta in ihrer Sorge um Ottchen innehalten. Ja, was war denn mit Mausi? Mausi hatte zwar neulich schon etwas gehustet, aber so arg ...

      »Fräulein Erna, hat Dr. Ritter Mausi heute gesehen?« erkundigte sie sich erschreckt. Der Arzt kam täglich in den Kinderhort, um die Kinder zu beobachten.

      Diese zuckte gleichmütig die Achsel. Fräulein Hilde aber meinte: »Die Kleine hustet ja bloß ein bißchen. Dr. Ritter hat ihr vor einigen Tagen Brechwurzelsaft verschrieben. Den nehmen wir pünktlich ein, nicht wahr, Mausichen?«

      Mausichen konnte nicht antworten, denn der Husten würgte sie. Die Tränen traten dem Kind dabei in die Augen, puterrot wurde das Gesichtchen von dem Anfall.

      »Mausi muß sofort isoliert werden – das Kind hat bestimmt Keuchhusten«, ordnete Marietta erregt an. Sie kannte diesen krampfartigen Küsten von ihrer früheren Tätigkeit her. »Wir müssen den Arzt und Fräulein Dr. Jungmann« – das war die Hortleiterin – »sofort benachrichtigen. Hier muß desinfiziert werden. Hoffentlich ist noch keins von den anderen Kindern angesteckt.«

      Mausi wurde mit Gummiquietschpuppe und einer abwaschbaren Zelluloidkatze in die Isolierbaracke, einem Nebenzimmer, eingeliefert. Fräulein Erna, die sie dort betreuen sollte, behauptete, den Keuchhusten noch nicht gehabt zu haben und für Ansteckung besonders empfänglich zu sein. Fräulein Hilde fand, sie sei bei den anderen Kindern unentbehrlich. So wanderte Marietta mit Mausi, Gummiquietschpuppe und Zelluloidkatze in den Isolierraum.

      Vergebens warteten die Hortkinder nach Fertigstellung ihrer Tapeten, Teppiche und sonstiger Einrichtungsgegenstände für das Puppenhaus auf Tante Jetta und die versprochene Belohnung. Zum erstenmal hielt Tante Jetta heute nicht Wort. Sie kam nicht wieder zum Vorschein. Gewissenhaft hielt sie sich von den andern Kindern fern und versuchte der armen Mausi jede nur mögliche Erleichterung zu verschaffen.

      Die enttäuschten Kinder, die vergeblich warteten, begannen wieder Unfug zu treiben. Sie verdarben sich gegenseitig die mühsam verfertigten, netten Sachen und fingen, da Tante Martha grade in der Küche die Schüsselchen mit Grießbrei füllte, wiederum an zu johlen und sich wie junge Katzen zu balgen.

      Der Lärm lockte Fräulein Dr. Jungmann herbei. »Ja, Kinder, was soll denn das heißen? Schämt ihr euch nicht, euch so ungezogen zu benehmen?« donnerte sie in den Tumult hinein. Vor Tante Jungmann hatten sie alle Respekt, die Kleinen sowohl wie die Großen. Eingeschüchtert ließen sie voneinander ab.

      »Wo ist Tante Marietta?« forschte die Leiterin ärgerlich. An den Tagen, an denen Marietta im Hort arbeitete, pflegten derartige Radauszenen nicht vorzukommen.

      Ingeborg erstattete Bericht, daß Tante Jetta zu den Kleinen gegangen und nicht wiedergekehrt sei. In der Laufkrippe erfuhr Fräulein Dr. Jungmann, was sich zugetragen, und gab sofort die notwendigen Anweisungen zum Desinfizieren.

      »Sie haben verständig und umsichtig gehandelt, Fräulein Tavares«, sagte darauf die Hortleiterin, den Isolierraum betretend.

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