Nesthäkchen im weißen Haar. Else Ury
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Читать онлайн книгу Nesthäkchen im weißen Haar - Else Ury страница 9
»Fräulein Tavares, bitte, noch einen Augenblick.« Und als Marietta nach vorn getreten war, fuhr sie fort: »Sie sind jetzt sechs Wochen drüben im Kinderhort praktisch tätig. Gefällt Ihnen Ihre Arbeit dort?«
»Oh, sehr gut«, kam es aus vollem Herzen.
»Man ist auch dort recht zufrieden mit Ihnen. Nur meinte die Hortleiterin« – Mariettas schwarze Augen wurden ein wenig bange –, »daß Sie dort nicht mehr viel zu lernen haben. Sie beherrschen die Horttätigkeit besser als die jungen Damen, die schon länger dort arbeiten.«
»Ich bin früher schon in verschiedenen Krippen, Horten und Kinderheimen tätig gewesen«, wehrte Marietta bescheiden das Lob, obgleich es ihr große Freude bereitete, ab.
»Dann haben Sie gewiß den Wunsch, an einer anderen Stelle praktisch zu lernen. Ich dachte mir, vielleicht in der Waisen- oder in der Schulpflege. Auch in einer Jugendlesehalle könnten Sie sich betätigen. Ich komme dabei gern Ihren persönlichen Wünschen entgegen.«
Mariettas Gesicht, von dem zarten Ton der Teerose, ward rosig überhaucht. Ein Zeichen dafür, daß sie erregt war.
»Dürfte ich nicht noch einige Zeit drüben im Hort bleiben?« bat sie, allen Mut zusammenraffend. »Ich habe meine Arbeit und vor allem meine kleinen Schutzbefohlenen dort lieb gewonnen. Es würde mir schwer werden, sie so schnell zu verlassen. Die Kinder freuen sich schon darauf, mit mir Weihnachten zu feiern, und ich möchte sie nicht enttäuschen.«
Fräulein Doktor schüttelte ihr herzlich die Hand. »Brav, Fräulein Tavares. So soll es sein, daß man seine Arbeit lieb gewinnt und sich schwer davon trennt. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie noch einige Zeit drüben bleiben wollen. Freilich müssen wir auch daran denken, daß Ihre weitere Ausbildung nicht darunter leidet.« Damit war die Unterredung beendet. Es erfüllte Marietta mit freudiger Genugtuung, daß Fräulein Dr. Engelhart mit ihr zufrieden war.
Ja, ihre kleinen Freunde drüben mußten sich heute noch recht lange gedulden, bis Tante Marietta kam. Für die gab's noch eine Stunde Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik. Das waren ziemlich fremde, schwierige Begriffe, die man sich zu eigen machen mußte. Die Vortragende, ein Fräulein Regierungsrat, war eine bedeutende Frau, die ihr Feld vorzüglich beherrschte. Sie war auch sicher eine gute Pädagogin und doch – die Begeisterung, die Marietta in den Stunden bei der Leiterin der Anstalt empfand, blieb dabei aus. Sie lernte aus Pflichtgefühl, und das erschwerte ihr die Arbeit.
In diesen Stunden glänzte besonders Gerda Ebert. Sie hatte eine schärfere Auffassungsgabe als ihre Kusine Marietta, und war daran gewöhnt, sachlich klar zu denken. Wenn Marietta irgend etwas nicht verstanden hatte, Gerda wußte es ihr stets zu erklären.
Heute gab es eine Meinungsverschiedenheit zwischen den Kusinen. Gerda war gar nicht damit einverstanden, daß Marietta noch im Kinderhort blieb, wo ihr die Möglichkeit geboten worden war, so schnell schon an eine andere Stelle versetzt zu werden. Das bedeutete eine Auszeichnung. Und vor allem galt es doch, immer weiter zu streben, immer Neues zu lernen. »Man muß seine Arbeit als Ganzes lieben, aber sich nicht an einzelne Teile derselben hängen. Sonst verliert man darüber das Ziel aus den Augen.« Das war Gerdas Auffassung.
»Du magst recht haben, Gerda«, gab Marietta zu, als sie Arm in Arm mit ihr durch den nadelfeinen Regen dem Internat der gegenüberliegenden hauswirtschaftlichen Frauenschule zuschritt. Dort nahmen sie an den Tagen, an denen sie des Nachmittags praktisch tätig waren, das Mittagessen ein. »Recht hast du schon, aber – wir sind eben verschieden. Ich arbeite mehr mit dem Herzen, du mit dem Verstande.«
»Mit dem Herzen allein wirst du viele Enttäuschungen erleben. Glaube mir, Kind,« – Gerda tat, als ob sie zehn Jahre älter wäre, – »auch auf sozialem Gebiete muß das Herz vom Verstand regiert werden.«
»Puh!« – Marietta schüttelte ihr goldbraunes Kraushaar, an dem die Regentropfen wie lauter Brillanten blitzten. »Weißt du, Gerda, das Regenwetter hier draußen ist gerade nicht dazu geeignet, beim Promenieren tiefsinnige Dinge zu erörtern. Komm rasch«, sie schauerte zusammen, »wir sind ganz durchnäßt.«
»Das macht nichts, ich bin in meinem Lodenmantel zweckmäßig gekleidet. Dein Gummimantel hält nicht so warm. Wenn wir später unsere Recherchen in den notleidenden Familien machen müssen, dürfen wir auch nicht nach dem Regen fragen. Das wird dir vielleicht manchmal recht schwer werden, Jetta, bei Wind und Wetter, von Straße zu Straße, treppauf, treppab. Du, Tropenkind, brauchst ja noch mal soviel Wärme und Sonne wie wir. Solchen Regen kennt man bei euch im Sonnenlande sicher nicht.«
»Sage das nicht, Gerda. Wenn es mal bei uns in den Tropen regnet, dann gießt es Bäche vom Himmel herunter, wie man es hier gar nicht kennt. Dann gibt es große Überschwemmungen. Das Vieh auf den Weiden ertrinkt. Die Häuser stehen unter Wasser, und die Leute fahren mit Kähnen in den Straßen. Merkwürdigerweise ist der Himmel dabei oft ganz blau, es regnet aus blauem Himmel. Das könnt ihr euch kaum vorstellen, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie Anita und ich eines Tages in Sao Paulo mit der Miß shopping waren. Bei herrlichstem Wetter waren wir fortgefahren. Plötzlich strömender Regen, ihr nennt es einen Wolkenbruch. Das Wasser stand alsbald so hoch, daß unser Auto nicht einmal durchkam. In unseren leichten Kleidern mußten wir durch Bindfadenregen mit einem Boot heimfahren.«
Gerda hatte interessiert zugehört. Sie liebte es, wenn Marietta aus dem Tropenlande berichtete. Die beiden jungen Mädchen waren inzwischen durch Gänge, Treppen und Korridore der hauswirtschaftlichen Frauenschule geschritten. Wie in einem Ameisenstaat kribbelte es dort von fleißigen Mädchen. Und weise, wie in einem wohlorganisierten Ameisenstaat, zog jedes die ihm vorgeschriebene Bahn. Mit großen Wirtschaftsschürzen angetan, erfüllte ein jedes seine Pflicht auf dem ihm angewiesenen Platze. Unten im Souterrain, in der weißgekachelten Waschküche, standen sie in kurzärmeligen Kleidern am dampfenden Waschfass und Spülzober und spritzten sich, trotz emsiger Arbeit, übermütig das Seifenwasser ins Gesicht. In dem Raum daneben wurde die schon getrocknete Wäsche sorgfältig von den jungen Hausgeistern gelegt und gemangelt. Wieder eine Abteilung weiter, da fuhren die blanken, elektrisch geheizten Eisen geschickt und unbeholfen über weißes Leinen. Die große Küche mit dem Herd in der Mitte bildete den Haupttummelplatz der jungen Welt. Da wurde gequirlt und gerührt, gekocht, gebacken, gebraten und geschmort; Geschirr gespült, Töpfe gescheuert. Ein Stockwerk höher surrten Nähmaschinen; Scheuerbürsten dämmten Wasserfluten. Überall war emsiges Treiben.
Für die junge Brasilianerin war diese planmäßige hauswirtschaftliche Ausbildung der deutschen Mädchen immer wieder eine Quelle der Bewunderung. Wie notwendig derartige praktische Kenntnisse waren, hatte Marietta inzwischen oft genug eingesehen. Ihr selbst hatte nach absolvierter Schulzeit das Studienjahr auf der allgemeinen Frauenschule nicht nur eine Vertiefung und Erweiterung auf wissenschaftlichem Gebiet gegeben. Sie hatte sich auch hauswirtschaftlich dort betätigt. Das Tropenprinzesschen mit den zarten Fingern hatte