Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf.. Meike Mittmeyer-Riehl
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Ich rekapitulierte den Tag: Weil es der erste schöne Frühlingstag gewesen war, hatten Dennis und ich beschlossen, Tennis zu spielen. Ich war erst am Abend zuvor von einer Schulung für Volontäre (ich war seinerzeit Volontärin, also auszubildende Redakteurin bei unserer regionalen Tageszeitung) in Bonn zurückgekommen. Es war Dennis‘ Geburtstag, darum waren wir abends bei unserem Lieblingsitaliener essen gegangen und unser beider Lieblings-Fußballmannschat, Eintracht Frankfurt, hatte auch noch gewonnen. Es war ein perfekter Start ins Wochenende. An dem Samstag waren wir dann auf den Tennisplatz gefahren, mit den Rädern, wie immer. Ich spielte seit rund zwei Jahren, Dennis schon länger. Ich war nicht berauschend gut, hatte aber schon eine Begabung, denn ich lernte schnell. Wir hatten ganz normal angefangen zu spielen.
Und irgendwann, bemerkte ich nun bei meinen nächtlichen Analysen, hatte ich ein Stechen im Hals gespürt. Ich weiß noch ganz genau, dass mich das eine Sekunde lang irritierte. Dazu kamen leichte Schmerzen im Hinterkopf. „Vielleicht brüte ich eine Erkältung aus“, dachte ich mir. Als dann auch noch etwas Benommenheit dazukam, war die Sache für mich klar. „Mir ist nicht so gut“, sagte ich zu Dennis, „lass uns aufhören.“ Vielleicht hatte ich mir bei der Schulung in Bonn etwas eingefangen. Oder es war der Wetterumschwung. Wir fuhren mit den Rädern zurück zu Dennis‘ Eltern.
Als ich mir vor dem Haus die Schuhe auszog, fühlte ich mich komisch. So seltsam hatte ich mich bei einer anfliegenden Erkältung noch nie gefühlt, konstatierte ich rückblickend. Das Gefühl, nicht mehr so ganz im eigenen Körper drinzustecken, das ich bereits im ersten Kapitel beschrieben habe, nahm hier seinen Ursprung. Rückblickend weiß ich auch, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits Sprachschwierigkeiten hatte, obwohl Dennis da noch nichts auffiel. Es bereitete mir einfach unglaubliche Schwierigkeiten, einen normalen Satz auszusprechen. So, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken und lallte. Ich musste mich auf jede einzelne Silbe konzentrieren. Völlig ungewöhnlich für mich. Eigentlich hätte ich schon längst Alarm schlagen und Dennis um Hilfe bitten müssen. Aber ich behielt meine seltsamen Gefühle für mich und beschloss, gleich nach Hause zu fahren und mich hinzulegen. „Dusch doch wenigstens noch hier“, sagte Dennis.
Wie dann alles ausging, wisst ihr schon. Gott sei Dank folgte ich seinem Rat und stieg nicht, wie eigentlich beabsichtigt, ins Auto. Nicht auszumalen, was passiert wäre, hätte die Lähmung am Steuer eingesetzt.
War das also wirklich ein Schlaganfall gewesen? Es passte vieles zusammen: die Kopfschmerzen, die Sprachstörung, die Benommenheit, die Lähmung. Und später im Krankenhaus, so wurde mir erst jetzt klar, hatte ich auch eine leichte (aber vorübergehende) Sehstörung. Das bemerkte ich erst, als ich irgendwo zwischen CT und MRT auf einem weißen Krankenhausflur lag und die Wand anstarrte. Da entdeckte ich nämlich plötzlich einen kleinen Regenbogen. Ich blinzelte und schaute nochmal hin, aber der Regenbogen war nicht etwa auf die Wand aufgemalt. Er bewegte sich, wenn ich die Augen bewegte. Auch eine Folge einer Unterversorgung des Gehirns, wie mir klar wurde.
Und dieses Stechen im Hals, das musste der Moment gewesen sein, in dem sich meine Ader aufspaltete. Aber warum? Und so vieles passte auch wiederum nicht zur Diagnose Hirninfarkt. Es konnte einfach nicht sein. Ich war jung und gesund, schlank und Nichtraucherin, hatte weder hohen Blutdruck noch zu hohe Cholesterinwerte, und war gestern noch putzmunter über den Tennisplatz gerannt. Es war unmöglich. Und doch war es wahr. Aber das begriff ich nicht. Phase zwei, die Schockstarre, hatte mich fest im Griff.
*
Am Morgen war ich so ausgelaugt und hungrig, dass ich mich richtig freute, als eine Frau mein Zimmer betrat, die einen winzigen Becher Apfelmus dabei hatte. Endlich Essen!
„Hallo Frau Mittmeyer“, sagte die Frau, die übertrieben deutlich sprach – sie betonte jeden einzelnen Buchstaben. Ihre Begrüßung klang also eigentlich eher wie „H-a-l-l-o F-r-a-u M-i-t-t-m-e-y-e-r“. Und weiter: „Ich bin Logopädin und möchte mit Ihnen ein paar Übungen machen.“
Ich setzte mich in meinem Bett auf und sah sie verwirrt an. Sie sprach mit mir, als wäre ich entweder ein Kleinkind oder minderbemittelt. Sie fragte mich, welches Datum wir hätten – „gestern war der 17., also ist heute der 18. März“, sagte ich. „Und welches Jahr?“ – „2012“, antwortete ich, nun noch mehr befremdet. Was glaubte die eigentlich, was mit mir los war? Wollte sie mich veräppeln? Zu der Zeit war mir immer noch nicht so ganz klar, wie schwer meine Erkrankung wirklich war. Ich fühlte mich blendend, wurde aber behandelt wie ein Todkranker.
Dann kam noch die Frage nach meinem Geburtsdatum. „11. April 1987“, sagte ich und kam mir vor wie im Kindergarten. Und endlich kam der Apfelmus-Becher zum Einsatz. „Probieren Sie, ob Sie schlucken können“, sagte die Logopädin, immer noch überdeutlich, obwohl sie so langsam begriffen haben musste, dass ich alles verstand und flüssig sprach. Ich riss den Becher auf und stieß gierig den Löffel hinein. Die Logopädin musterte mich, während ich den ersten Mundvoll hinunterschluckte. „Das klappt ja gut“, sagte sie. Danach bekam ich endlich ein richtiges Frühstück, sogar mit Kaffee. Ich fühlte mich wie im Himmel. Kurzzeitig wenigstens.
Ich weiß nicht mehr genau, wann das erste Mal an diesem Tag ein Arzt kam, um nach mir zu sehen. Was ich aber noch ganz genau weiß, ist, was ich ihn als erstes gefragt habe. Es war: „Kann ich in sieben Wochen in die USA fliegen?“ Das klingt jetzt ziemlich schräg, ich weiß. Dazu müsst ihr aber wissen, dass Dennis, ich und zwei gute Freunde bereits seit Monaten unsere dreiwöchige Reise in den Wilden Westen der USA geplant hatten. Wochenlang hatte ich die schönsten Ziele entlang der Route Denver – Rocky Mountains – Grand Canyon – Las Vegas – Salt Lake City – Yellowstone Nationalpark – Denver herausgesucht. Mietwagen und Flüge waren gebucht. Es sollte der erste gemeinsame Urlaub von uns vieren werden, einer aus unserer Truppe war sogar noch nie zuvor in den USA gewesen.
Und ich weiß, es ist komisch, denn eigentlich müsste ich im Krankenhaus mit einer so gravierenden Diagnose ganz andere Probleme haben, könnte man meinen. Aber ich klammerte mich derartig an dieser Reise fest und wollte sie so unbedingt antreten, dass ich gar keinen Platz für irgendwelche anderen Probleme hatte. Alles drehte sich darum, schnellstmöglich hier rauszukommen und in die USA fliegen zu können. Wenn ich diese Reise nicht antreten konnte, dann fühlte sich das so an, als wäre ich an dem ersten schönen Frühlingstag im März doch gestorben.
Der Arzt, ein sehr freundlicher, gesprächiger Typ, der aber kaum Zeit hatte, war von meiner Frage komischerweise gar nicht überrascht. Andere Ärzte hätten mich vielleicht entsetzt angeschaut und so etwas gesagt wie: „Das können Sie vergessen.“ Und es gab später in der Rehaklinik auch Ärzte, die mir dringend von der Reise abrieten. Denn allein schon ein so langer Flug nach einem akuten Schlaganfall stellt eigentlich ein erhebliches Risiko dar. Aber es war mein Glück, dass ich an einen sehr optimistischen, lebensfrohen Mann geraten war, der sich, so kam es mir zumindest vor, richtig darüber freute, dass ich Ziele hatte. „Na klar“, sagte er, als hätte ich nur einen Schnupfen, „das kriegen wir hin.“
Er erklärte mir in aller Kürze, was bei mir den Hirninfarkt ausgelöst hatte. Und bei ihm klang es, als sei das etwas ganz Alltägliches: der Riss in meiner Halsschlagader nennt sich spontane Dissektion. Betroffen war bei mir die Arteria Carotis Interna, also eine der wichtigsten Arterien im Hals, die das Gehirn mit Blut versorgen.
Kurz zum anatomischen Hintergrund: Die Hauptschlagader unseres Körpers, die Aorta, führt nicht als ein dicker Schlauch direkt ins Gehirn, sondern spaltet sich im Wesentlichen in vier wichtige hirnversorgende Halsschlagadern auf: die Arteria Carotis Interna