Der Spalt: Wie mich – 24, schlank, sportlich, Nichtraucherin – der Schlag traf.. Meike Mittmeyer-Riehl
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Ich konnte also nichts anders tun, als dazuliegen und mich meinem Elend zu ergeben. Jetzt – man könnte sagen, endlich – wurde ich nicht nur wie eine Todkranke behandelt, sondern fühlte mich auch so.
*
In der Nacht nach der Angiografie, in der ich kein Auge zutat, fasste ich alle möglichen wirren Gedanken. Langsam wurde mir bewusst, dass das alles hier auch sehr böse hätte enden können; und auch wenn diese Erkenntnis noch nicht vollständig bis in mein Bewusstsein vordrang, so veranlasste sie mich doch zu extrem beängstigenden Überlegungen darüber, was passiert wäre, wenn ich an jenem schönen ersten Frühlingstag tatsächlich gestorben wäre.
Es waren total absurde, teils banale Gedanken, die mir zuerst in den Sinn kamen. Ich fragte mich zum Beispiel, ob wohl einer meiner Kollegen bei der Zeitung einen Nachruf geschrieben hätte. Das ist eigentlich üblich, wenn ein Kollege aus der Redaktion stirbt. Aber ich wusste nicht, ob das auch auf Volontäre zutrifft, schließlich gehören die ja eigentlich nicht richtig zu irgendeiner Redaktion.
War überhaupt schon mal ein Volontär bei dieser Zeitung gestorben, als er noch Volontär war? Ich wusste es nicht, aber ich überlegte mir schon, welcher meiner Kollegen möglicherweise meinen Nachruf verfasst hätte. Wer kannte mich am besten, wer mochte mich am liebsten?
Was hätte Kollege X über mich erzählt? Blöde Standard-Floskeln? Oder hätte er sich bei meiner Familie Erkundigungen über mich eingeholt, um persönlicher werden zu können? Und hätte sich eigentlich der Pförtner, der mir jeden Morgen und Abend beim Rein- und Rausfahren so fröhlich zuwinkte, gefragt, wo ich abgeblieben war? Hätte er irgendwann mal an mich gedacht?
Ein anderer absurder Gedanke, über den ich mir den Kopf zerbrach, war der an meine eigene Beerdigung. Ernsthaft, ich überlegte mir, wie wohl meine Beerdigung ausgesehen hätte; wer gekommen wäre, ob die Zeitung einen Blumenkranz geschickt hätte, was der Pfarrer, der sich während meiner Konfirmanden-Zeit nie meinen Namen merken konnte, wohl über mich gesagt hätte, und so weiter...
Hinter all diesen wirren Fragen blieb ein Fragezeichen stehen, nur bei einer Sache war ich mir ganz sicher: Bei dem Lied, das man für mich gespielt hätte. Es gibt nur ein einziges Lied, das dafür in Frage kommt, überlegte ich: Und zwar „No one Knows“ von „Green Day“. Ich weiß nicht, wieso. Nicht, weil es vom Text so gut zu mir passt, denn das tut es eigentlich überhaupt nicht: Es geht um einen Typen, der absolut keine Lust darauf hat, erwachsen zu werden. Der seine Freunde altern sieht, sich selbst aber sagt: Das will ich nicht! Mein Spaß fängt doch gerade erst an.
Es ist eines meiner ewigen Lieblingslieder, und die Vorstellung, es laut und klar durch die stille Trauerhalle dröhnen zu hören, gab mir ein diffuses Gefühl der Zufriedenheit. Ich liebe dieses Lied immer noch, und doch kann ich es heute nicht mehr hören, ohne daran zu denken.
Die Musik von „Green Day“ gibt mir sowieso unglaublich viel. Sie hat in der Regel einen dieser beiden Effekte auf mich, wenn ich vollkommen am Boden zerstört bin: Entweder muntert sie mich unmittelbar auf, gibt mir die Kraft, aufzustehen und weiterzumachen, sogar noch stärker als zuvor. Oder die Musik bestärkt mich in meiner Melancholie, sodass ich noch mehr weine, so lange, bis keine Tränen mehr kommen. Auch das kann sehr befreiend sein.
In jener Nacht jedoch trat keiner dieser Effekte ein, und das will bei mir schon etwas heißen. Ich weinte zwar, aber es war kein befreiendes Weinen, sondern eher eines, bei dem die Qual mit jeder Träne schlimmer wird statt besser. Ich hatte das Gefühl, ich müsste sterben. Zum ersten Mal fasste ich in all der Verwirrung und all dem (körperlichen wie psychischen) Schmerz einen Gedanken, für den ich mich noch im selben Moment schämte. Aber ich dachte den Gedanken, ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich dachte: Wenn so von jetzt an mein Leben aussehen wird, dann wäre es doch besser gewesen, an jenem ersten schönen Frühlingstag einfach zu sterben.
Kapitel 5 : Tschüss, Klinik
„ One day your life will flash before your eyes.
Make sure it's worth watching . ”
Gerard Way 9
Wenn euer Leben eines Tages wie ein Film vor euren Augen abläuft, was für Szenen werdet ihr dann sehen? Habt ihr euch darüber schon mal ernsthaft Gedanken gemacht? Ein Schicksalsschlag macht diesen Film eures eigenen Lebens plötzlich auf unheimliche Art und Weise real. Es ist, als hättet ihr die ganze Zeit über nur in einer künstlichen Scheinwelt gelebt, und auf einmal seht ihr die Kameras um euch herum, die euch auf Schritt und Tritt aufzeichnen. So wie in der „Truman Show“, falls ihr den Film kennt. Euch wird schlagartig bewusst, dass die Aufnahmekapazität dieser Kameras begrenzt ist. Und dass es noch so viele tolle Szenen gibt, die ihr unbedingt einfangen wollt. Nur leider wisst ihr eben nicht genau, wie viel Speicherplatz ihr noch habt.
Mich zwang die Krankheit regelrecht dazu, mein Leben gedanklich zurückzuspulen und die Szenen zu rekapitulieren, die irgendwann einmal meinen Film ergeben. Und ich muss sagen, da waren schon etliche Szenen dabei, die mir eines Tages beim Zuschauen sehr, sehr viel Spaß machen werden. Aber leider gibt es natürlich auch die anderen Szenen, bei denen mir das Hinschauen schwerer fallen wird; Szenen, die ich vielleicht sogar lieber rausgeschnitten hätte, die aber eben nun mal genauso zu meinem Leben gehören wie die gelungenen. In den einsamen Nächten während meines Krankenhausaufhalts ließ ich einige dieser Szenen in meinem Kopf ablaufen.
„Dies ist kein Ort zum Sterben“: So begann ich einmal einen Reisebericht über die wunderschöne Küstenregion von Khao Lak in Thailand. Ich war dort auf einer Pressereise und schrieb eine Reportage für die Reise-Seiten unserer Zeitung über die Folgen des verheerenden Tsunamis genau sieben Jahre zuvor. Ziemlich verrückt an der ganzen Sache war, dass die Reise nur drei Tage dauerte.
Ich flog also über zwölf Stunden um den halben Erdball, um nur 72 Stunden dort zu bleiben. Aber ich erinnere mich auch heute noch so gern und lebhaft an die Zeit, dass sie mir im Nachhinein viel länger vorkommt. Vielleicht gerade weil die Reise so kurz war, erlebte ich sie so intensiv. Jedenfalls kam ich nach der langen Anreise logischer Weise ziemlich erschöpft am Hotel am Khuk Khak Strand an – diese Müdigkeit war aber sofort verflogen, als ich mein Zimmer betrat: Es kam mir eher wie der Raum einer kleinen Villa vor, mit glänzendem schwarzen Boden, einem riesigen Himmelbett, edlem, rundum verglastem Bad und einer eigenen Terrasse.
Ich bin beileibe kein Luxusurlauber und wohne in fremden Ländern viel lieber in kleinen, familiären, landestypischen Unterkünften, in denen man auch wirklich noch mit Einheimischen in Kontakt kommen kann. Aber diese Reise war eben auch für mich eine außergewöhnliche – und ich hatte noch nie zuvor in einem solchen Luxus-Zimmer wohnen dürfen. Ich fühlte mich, als hätte ich für diese kurzen drei Tage das Leben eines anderen ausgeliehen. Wir machten an diesem Anreisetag noch einen Ausflug in den Nationalpark ganz in der Nähe, schipperten in Bambus-Booten über einen Fluss, sahen vom Speedboot aus den berühmten James-Bond-Felsen und aßen abends direkt am Strand die köstlichsten Meeresfrüchte und Reisgerichte.
Das Schönste jedoch – und das ist auch der Grund, warum ich diese Szene hier überhaupt schildere – war ein Moment in der Abenddämmerung, ein kurzer Augenblick nur, der damals so schnell vorüberzog wie eine Wolke, der sich aber tief in mein Gedächtnis und mein Herz eingegraben hat: Zusammen mit fünf oder sechs anderen Journalisten aus der Gruppe beschloss ich, zwischen Rückkehr vom Ausflug und Abendessen schnell noch ins Meer zu springen. Das musste einfach sein.