Der verborgene Erbe. Billy Remie
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Читать онлайн книгу Der verborgene Erbe - Billy Remie страница 7
Es schien ein anderes Leben gewesen zu sein.
Wexmell atmete tief durch, dann spannte er den Bogen und zielte. Genau wie Luro es ihm unzählige Male gezeigt hatte, hielt er die Luft an und erfasste seine Beute. Er schätzte die Entfernung ab, erwog, ob das Kaninchen sich bewegen würde – und wohin. Korrigierte den Pfeil, zielte etwas höher, mehr links, wegen des Windes. Er musste nur noch loslassen, und …
Er verharrte. Schweiß perlte an seiner Schläfe hinab.
Warum konnte er es nicht? Er aß gern Kaninchen. Er ging gerne Jagen, seit er sicher im Umgang mit dem Bogen war. Er mochte es, den Köchen in der Burg eine Freude zu machen, wenn er ihnen nach dem Ausritt am Morgen frisches Fleisch vorbeibrachte, dass sie für sich selbst zubereiten und ihren Familien mitbringen durften.
Es war doch nur ein Kaninchen, sprach er auf sich selbst ein. Desiderius war nicht mehr hier, um etwas an seiner Beute auszusetzen zu haben. Er würde Wexmell nicht mehr tadeln können, ihm keinen seiner griesgrämigen Blicke mehr zuwerfen können.
Nie mehr.
Und Wexmell würde nie mehr die Gelegenheit haben, ihm diesen zynischen, verbissenen Ausdruck aus den verhärteten Mundwinkeln zu küssen.
Nie mehr.
Wexmell blinzelt die Tränen fort, die ihm in den Augen brannten. Er hatte in seinem Leben jetzt schon wahrlich genug geweint, er war es leid.
Tu es, drängte er sich. Niemand würde daran Anstoß nehmen.
Noch einmal spannte er die Bogensehne, richtete den Pfeil auf das Kaninchen und …
Er konnte nicht.
Ermüdet sackte er zusammen und ließ sich auf die Knie nieder. Seine Arme fielen mutlos an den Seiten herab, in der einen Hand den Pfeil, in der anderen den Jagdbogen.
Wenn er nicht einmal fähig war, ein Kaninchen zu töten, nur weil Desiderius es nicht getan hätte, wie sollte er je über ihn hinwegkommen?
Wobei »hinwegkommen« ohnehin die falsche Bezeichnung dafür war. Wexmell wollte nicht darüber hinwegkommen, dass sein Geliebter jetzt tot war, dass sie sich nie wiedersehen würden. Aber er erhoffte sich doch zumindest, dass dieser elende Schmerz in seinem Herzen langsam abklang. Dass er nachts schlafen konnte. Und dass er nicht jeden winzigen Augenblick seines Lebens daran denken musste, dass er Desiderius verloren hatte.
Es zerriss ihn innerlich so sehr, dass er kaum zu hoffen wagte.
Das Schlimmste, das ihn hätte passieren können, war Desiderius zu verlieren, und genau das war eingetroffen.
Wie sollte er damit umgehen?
Wenn er doch nur irgendein Zeichen erhalten würde. Irgendein Gefühl. Oder zumindest irgendetwas spüren würde, das ihm das Gefühl gab, Desiderius wachte noch über sie alle.
Doch da war nichts. Nichts war von Desiderius übrig. Nichts war geblieben.
Gänzlich unerwartet drängte sich eine Bewegung in sein Blickfeld. Wexmell sah auf und bemerkte ein weiteres Kaninchen, das aus dem Busch hoppelte. Es gesellte sich zu dem anderen, ihre langen Ohren zuckten aufgeregt, ihre winzigen Nasen ruckten schnell auf und ab, ihre Zähne rupften das Gras aus dem Boden und ihre Köpfe flogen nervös hin und her.
Sie bemerkten ihn nicht, zu reglos kniete er da und beobachtete sie.
Das dazugekommene Kaninchen hoppelte dicht an das andere, drängte sich dagegen und stupste es mit dem Kopf an. Sie begrüßten sich. Das eine Kaninchen leckte dem anderen über die Stirn, putzte es sorgfältig, woraufhin das Frühstück eingestellt wurde, und das Kaninchen, das geputzt wurde, seinen Kopf drängend seinem Artgenossen entgegenschob.
Wexmells Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Und dann tat die Natur etwas völlig Unpassendes im Angesicht dieses lieblichen Moments. Der Instinkt der Tiere ging mit ihnen durch. Das eine Kaninchen bestieg das andere und rammelte es ungehalten im Dunst des Morgens.
Für einen Moment sah Wexmell ziemlich belämmert aus der Wäsche, ehe er das Geräusch in seiner Kehle nicht mehr zurückhalten konnte. Er begann leise zu lachen.
»Vermisst du es?«
Wexmell fuhr mit einem leisen Aufschrei herum.
Der Mann hinter ihm, der lässig mit einer Schulter am Baumstamm gelehnt hatte – er musste ihn schon länger beobachtet haben – bedeutete ihm, sitzen zu bleiben.
Wexmell lächelte etwas verlegen. »Was denn? Das Rammeln?«
Lachend schlenderte Allahad auf ihn zu. Er ruckte mit der Schulter, woraufhin sein Falke mit dem rot gefiederten Kopf die Flügel ausbreitete und in den Himmel abhob.
»Die Zweisamkeit«, korrigierte Allahad und setzte sich zu Wexmell auf den feuchten Boden. Er sah ihm schelmisch in die Augen. »Und das Rammeln.«
Wexmell senkte schmunzelnd den Kopf. Da er das Knien leid war, zog er die Beine hervor und setzte sich auf den Hintern. »Ich wusste nicht, dass schon jemand wach ist«, wich er der Frage aus.
Allahad fuhr sich durch sein schulterlanges, unordentliches Haar, das ganz genauso wirkte, als hätte es vor Kurzem erst ein gewisser Jemand mit den Händen durchwühlt.
Für einen Moment beneidete Wexmell Allahad und Luro darum, dass sie einander hatten. Aber das Gefühl dauerte nicht allzu lange an. Dafür war Wexmell einfach zu … nett. Er konnte auf seine engsten und ältesten Freunde nicht neidisch sein, nur weil sie das Glück hatten, dass sie beide noch am Leben waren.
So jemand war er nicht. Und er wollte es auch nicht sein.
»Luro ist auch auf der Jagd«, erklärte Allahad und blickte dann gen Himmel.
Wexmell folgte dem Blick ohne etwas zu erkennen. Zweifellos, so ging es ihm in jenem Moment durch den Kopf, flog Allahads Falke zu dem Jäger im Wald, um über ihn zu wachen.
Nicht, dass Luro Schutz nötig gehabt hätte. Aber so war das eben unter Männern von diesem Schlag. Allahad konnte ebenso wenig wie Luro den Beschützerinstinkt abstellen. Genauso war es Desiderius immer ergangen, obwohl er nach zwanzig Jahren allmählich gelernt hatte, Wexmells Fähigkeiten zu vertrauen.
Wexmell senkte den Kopf und atmete schwer durch. »Er fehlt mir jeden Tag mehr«, gab er müde zu.
»Uns allen«, erwiderte Allahad, und gab Wexmell das Gefühl, mit seiner Trauer nicht gänzlich allein zu sein. Das tat unheimlich gut.
»Willst du etwas hören, das dich kurzzeitig aufmuntern wird?«, fragte Allahad und lächelte Wexmell amüsiert zu.
Wexmell zuckte mit den Achseln. »Ja, natürlich.«
»Der Rammler da …«, Allahad nickte zu den Kaninchen und deutete mit einem ausgestreckten Finger auf sie, » … erinnert mich stark an Luros ungestüme Versuche, den Part des Besteigers zu übernehmen.«
Wexmell drang sich das Bild auf, das Allahad ihm beschrieb. Er brach in Gelächter aus und stieß Allahad mit der Schulter an. »Du bist furchtbar. Und gemein!«
Allahads