Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani

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Die kleine Posaune der Freiheit - Ludwig Witzani

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„Aus Sofia“, antwortete Stefan. „Fährst du da auch noch hin?“

       „Schön möglich“, antwortete ich. „Aber erzähl doch mal.“

       Stefan schenkte sich nach, goss auch mir ein Glas Wein ein und zog eine Schnute, die ich an ihm noch nicht gesehen hatte.

       „Es begann wie eine richtige Romanze, dann wurde es eine richtige Liebe, und am Ende zerplatzte es wie eine Seifenblase.“

       Nun donnerte es draußen. Der Himmel hatte sich vollkommen verdunkelt, der Dackel lag behaglich auf meinem Schoß und schnarchte.

       „Ihr Name war Lydia, sie war Anfang zwanzig und studierte Politikwissenschaft in Frankfurt. Ich traf sie, als ich in den Zug nach Koblenz einstieg, um einen Freund in Köln zu besuchen. Sie war so schlank, sie wirkte so zerbrechlich und zugleich so herzlich, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte.“

       „Sprach sie denn deutsch?“

       „Fließend. Sie studierte Philosophie in Frankfurt und begann mir auch gleich etwas über den Kategorischen Imperativ zu erzählen. Auf jeden Fall sprang sofort ein Funke über, und als sie in Bonn ausstieg, bin ich mit ausgestiegen. Wir gingen an das Rheinufer und erzählten uns den ganzen Abend unsere Leben. Schließlich tauschten wir unsere Adressen aus, sie brachte mich zum Bahnhof, und ich fuhr alleine weiter nach Köln.“

       Stefan machte eine Pause und blickte aus dem Fenster. Dann wendete er den Kopf und sah mich an: „Keine zwei Tage später klingelte es an meiner Türe, und Lydia stand mit zwei vollgepackten Taschen im Treppenhaus. Ohne zu fragen, ließ ich sie ein, wir schliefen zusammen und lebten hinfort wie Mann und Frau.“

       Ich trank das Glas leer und schwieg.

       „Die ersten zwei drei Monate waren wunderbar“, fuhr Stefan fort. „Ich war so lange Single gewesen, hatte mich mit all diesen unzuverlässigen Weibern herum geschlagen, und hier war plötzlich eine junge, schöne Frau, die sich hundertprozentig auf mich einstellte, die den Tisch gedeckt hatte, wenn ich heimkam und sich nachts an mich kuschelte, als gelte es ihr Leben.“

       „Hört sich etwas traditionell an“, wandte ich ein.

       „Nein, das hört sich wunderbar an“, widersprach Stefan. „Aber leider war das nur der Anfang. Denn bald kam sie dahinter, dass ich ein Langzeitstudent und keineswegs so vermögend war, wie sie angenommen hatte. Und auch ich erkannte, dass sie von jeder Art Examen noch meilenweit entfernt war. Sie war einfach aus Sofia abgehauen, hatte in Frankfurt bei entfernten bulgarischen Verwandten gelebt und sich gedacht, dass sie bei mir festen Boden unter den Füßen bekommen könnte.“

       „Das hätte doch klappen können. Warum seid ihr denn nicht beide arbeiten gegangen?“ fragte ich.

       „Ging nicht, ich versuchte mich gerade an einem zweiten Anlauf zum Jura-Examen, aus dem mit dieser Liebesgeschichte natürlich nichts mehr wurde. Und sie verfolgte immer deutlicher nur ein Ziel: ich sollte sie heiraten, damit sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten würde, denn ihre Aufenthaltserlaubnis lief ab.“

       „Hast du sie denn geliebt?“

       „Ich glaube, ja.“

       „Und warum hast du sie nicht geheiratet?“ fragte ich.

       „Ich weiß auch nicht, Plötzlich traute ich ihr nicht mehr. Die Sache schien mir gar zu durchsichtig. Ich zögerte. Und dann war sie eines Tages weg.“

       „Wie das?“

       „Eines Tages kam ich nach Hause, und ihre Sachen waren weg. Über eine Freundin erfuhr ich später, dass sie nach Paris gefahren war, wohin sie ohnehin bald hatte reisen wollen. Dort hat sie innerhalb kürzester Zeit einen Franzosen geheiratet.“

       „Das ist bitter.“

       „Nein“, antwortete Stefan. „Nur lehrreich.“

       „Und warum versuchst Du es mit den baltischen Frauen nun noch einmal?“

       „Weil man aus Fehlern eben nicht lernt.“

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       Nach zweieinhalb Tagen hörte der Regen endlich auf. Noch immer hingen die Wolken wie eine feuchte Decke über der Küste, doch nun konnte man immerhin durch die Stadt spazieren und über den Strand laufen. Vom feuchten Wind der Ostsee umweht, besuchten wir das Estonia- Denkmal von Pärnu, ein groteskes Stahlgewirr, das zum Gedenken an den Tod von achthundert Esten bei dem Untergang der Fähre „Estonia“ im Jahre 1994 errichtet worden war. Ich erinnerte mich noch gut an das Aufsehen, dass dieses Unglück damals in der Presse des Westens verursacht hatte, begriff aber erst jetzt, welche Katastrophe der Tod von 800 Menschen für eine Ethnie bedeutete, die ohnehin nur noch 800.000 Menschen zählte. Umgerechnet auf die Bevölkerung Deutschlands hätte ein proportional vergleichbares Desaster die unfassbare Zahl von 80.000 Opfern fordern müssen.

       Gleich neben dem Estonia Denkmal befand sich am Rande eines Wohnkomplexes in Strandnähe ein Stahlgebilde von etwa dreißig Metern Höhe. Etwa auf halber Höhe erkannten wir beim Näherkommen zwei Kinder, die scheinbar sorglos und ungezwungen in riskanter Höhe an den Eisenstangen herumkletterten. Ihre Mutter, eine rothaarige junge Frau, mit Pelzjacke und weißen Stiefeln bekleidet, saß auf einer Bank neben dem Stahlgerüst und rauchte.

       Erst dachte ich, dass sie zu ängstlich sei, die Kinder herunterzuholen und erbot mich, das für sie zu erledigen. Doch sie winkte ab. „Die kommen schon zurecht“, sagte sie in tadellosem Deutsch. „Aber woher kommen Sie?“

       So begann ein Gespräch, bei dem ich nervös die tollkühnen Kinder im Auge behielt und erleichtert feststellte, dass sie langsam herunter kamen, während sich ihre Mutter eine Zigarette nach der anderen anzündete.

       Ihr Name war Anna, sie hatte Germanistik studiert und weilte nun schon seit einem Monat zur Sommerfrische in Pärnu. Wie sie offenherzig bekannte, hing ihr die Betreuung der Kinder inzwischen zum Hals heraus und sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn die kleinen Biester abgestürzt wären.

       Als sie unsere betroffenen Mienen sah, lachte sie laut auf. „Mein Gott, das war doch nur ein Scherz.“ Dann veränderte sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck, und sie blickte mir tief in die Augen, am Herzen vorbei direkt ins Eingemachte. Ich spürte es ganz deutlich, mir lief es kalt den Rücken herunter, während ich mich fragte: Ist das Osteuropa?

       Da hatten wir endlich eine schöne baltische Frau, aber ganz anders als erwartet. Von dankbarer Unterwürfigkeit war hier nichts zu erkennen, stattdessen hatte ich das Gefühl, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, wenn ich als dekadenter Westling auf der Stelle meine Brieftasche und meine Scheckkarte auspacken und dieser Frau zu Füßen legen würde. Ihre Wangen waren edel geschwungen, hinter ihren üppigen Lippen sah ich den Schmelz traumhaft weißer Zähne, und ihre Augen waren so groß und dunkel, dass ich auf der Stelle in ihnen zu versinken drohte. Mir war, als würde ein Netz ausgeworfen, und als würde ich im nächsten Augenblick die Kontrolle verlieren.

       Gerade wollte ich nach ihrer Adresse fragen, als mich Stefan rüde von der Seite anstieß. „Los, komm, wir müssen weiter, gleich fängt es wieder an zu regnen.“

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