Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani
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Selbst bei der Frage, wer die große St. Peter Kirche im Herzen von Riga zusammengeschossen hatte, tendierte der normale Lette zur Antwort: das waren die Russen, auch wenn die meisten insgeheim wussten, dass die Deutschen während ihrer Rückzugsgefechte im Zweiten Weltkrieg einen Großteil der Innenstadt und damit auch St. Peter, die höchste Kirche des Landes, in Schutt und Asche gelegt hatten. Inzwischen war St. Peter gottlob längst wieder aufgebaut, und ihr über einhundert Meter hoher Turm konkurrierte mit dem Glockenturm der Olafskirche in Tallinn um den Titel des höchsten baltischen Gotteshauses.
In vierundsiebzig Metern Höhe, auf der Aussichtsplattform von St. Peter ergab sich schließlich jener distanzierte Blick auf Riga, bei dem alles Lettische, Russische, Deutsche, Schwedische, Polnische oder wie immer auch die Nationen hießen, die am Stadtbild Rigas mitgewirkt hatten, in einem Gesamteindruck verschmolz. Es war der Gesamteindruck eines flachen Landes, durch das ein breiter Fluss seiner Mündung in die Ostsee entgegen floss und an dessen Ufern seit dem 13. Jahrhundert eine Stadt existierte, in der bis auf wenige Jahrzehnte acht Jahrhunderte lang immer nur die Fremden den Takt angegeben hatten. Wie ein ausgefranster Häuserteppich erstreckte sich die Stadt in der Nähe des Meeres, immer flacher zu ihren Rändern hin, als hätte der unablässig wehende Wind die Peripherien der Stadt glatt geschmirgelt. Es war ein nordischer, ein skandinavischer Wind, der an diesem Tag über die Ebenen fegte und den Himmel reinigte, es war ein Wind, der um Kirchtürme und Hochhäuser brauste, der in wilden Turbulenzen den großen Fernsehturm im Westen der Stadt umwehte und die Ausflugsschiffe auf der Düna tanzen ließ.
Im Zentrum dieser windigen Welt, gleich unterhalb der großen Kirche befand sich die Altstadt von Riga, das historische Zentrum, in dem der deutsche Bischof Albert von Buxtehude im Jahre 1211 den ersten Dom der Stadt errichten ließ. Das Rathaus, das Schwärzhäuptergildenhaus und die Roland-Statue überragten einen Platz voller schwerterschwingender Ritter mit Lanzen, Kreuzen, Drachen und allegorischen Fabelwesen, während immer neue Touristengruppen aus den Zentren des alten Europas darüber staunten, sich zweitausend Kilometer von daheim entfernt einer Kopie norddeutscher Marktplätze gegenüber zu sehen. Eine Kopie ist es sogar im buchstäblichen Sinne - denn der gesamte Marktplatz samt Kirche und Uferbebauung war am Ende des Zweiten Weltkrieges von der abrückenden deutschen Armee zerstört worden. Nun war sie als ein urbanes Fake ebenso detailgetreu und makellos wiedererstanden wie die Altstadt von Warschau.
Am Ende einer wechselvollen Geschichte mit deutschen, polnischen und schwedischen Herren fiel Lettland im 18. Jahrhundert an das Zarenreich, und es dauerte nicht lange, da verwandelte sich Riga in eine Miniaturausgabe von St. Petersburg mit Salons und Theatern und einer Monumentalstatue Zar Peters des Großen im Herzen der Stadt. "Liefland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwissenheit und eines angemaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei" schrieb Johann Gottfried Herder als Kolaborator der Domschule über das Riga des 18. Jahrhunderts, in der es sich die deutschbaltische Oberschicht mit kommunaler Selbstverwaltung gut gehen ließ, während sie die stadthörigen lettischen Hintersassen Mores lehrten. Erst im 19. Jahrhundert erwachte in der Auseinandersetzung mit den deutschbaltischen und russischen Oberschichten in den Städten ein lettisches Nationalbewusstsein, das unmittelbar nach der Gezeitenwende des Ersten Weltkrieg zur Gründung der ersten lettischen Republik führte. Während das benachbarte Russland im bolschewistischen Elend versank, wurde Riga innerhalb der kurzen und so trügerisch verheißungsvollen Zeit der "Goldenen Zwanziger" zu einem "Paris des Ostens", zu einem Kristallisationspunkt von Kultur, Individualität und Lebensart. In den Dreißiger Jahren, als sich die politische Großwetterlage bereits wieder zu verdunkeln begann, getraute man sich sogar, die große Monumentalstatue Zar Peters abzureißen und an ihrer statt am Ende des Kalkuleja-Boulevards eine vierzig Meter hohe Freiheitssäule zu errichten, auf deren Spitze "Mutter Heimat" als resolute baltische Mutter ihre drei Kinder in Gestalt von drei Sternen in den Himmel hob. Bei diesen drei Sternen handelte es sich nicht, wie viele Touristen mutmaßten, um die symbolische Darstellung Lettlands, Estlands und Litauens, sondern um die drei lettischen Regionen Kurzeme, Lettgalle und Vidzeme.
Mit der gerade erst gefeierten Freiheit Lettlands aber war es schon wenige Jahre nach der Errichtung der Freiheitsstatue auch schon wieder vorbei. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges brach eine nationale Existenzkrise über das Land herein, deren traumatische Spuren das nationale Selbstverständnis im Verhältnis zu Russland bis heute prägen. Die Letten nennen diese Zeit "die Epoche der Okkupation", und sie scheuen sich nicht, diese einundfünfzig Jahre der deutsch-russischen Fremdherrschaft zwischen 1940 bis 1991 in einer nach westlichen Maßstäben politisch höchst unkorrekten, aber durchaus nachvollziehbaren Parallelisierung zu dokumentieren. Denn im "Museum der Okkupation", das sich wie ein ästhetischer und moralischer Kontrapunkt gleich in der Nachbarschaft des so idyllisch restaurierten Marktplatzes befindet, waren die Sieger und Besiegten des 2. Weltkrieges nicht wie in den Nürnberger Prozesses fein säuberlich geschieden, sondern saßen als nationalsozialistische und kommunistische Variante eines modernen Mördertotalitarismus beide gleichermaßen auf der Anklagebank.
Die in mehreren Sprachen präsentierte Foto- und Dokumentenausstellung begann mit der Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes, in dessen geheimen Zusatzprotokoll sich die beiden Diktatoren über die Aufteilung Osteuropas verständigt hatten. Molotow und Ribbentrop grinsten auf großen Fotografien von den Wänden, und gleich nebenan sah man die Verzweiflung in den Gesichtern der Außenminister Lettlands, Estlands und Litauens, die im Frühjahr 1940 nach Moskau zitiert wurden, um die so genannten "Schutzverträge" zu unterzeichnen, die in Wahrheit nichts anderes bedeuteten als die bedingungslose Kapitulation vor der nackten Gewalt. Als die sowjetischen Truppen im Juni 1940 Lettland besetzten, begann die russische Geheimpolizei sofort mit Massenverhaftungen, Deportationen und Erschießungen aller nur irgendwie der Opposition verdächtigen politischen und gesellschaftlichen Kräfte. Eine Welle des Terrors schwappte über das Land, deren Wucht die schlimmsten Befürchtungen weit übertraf und von der das Ausland erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR erfahren sollte. Das nationale Leben stand still, die lettische Wirtschaft befand sich bereits im Stadium des Zusammenbruchs, als im Juni 1941 die deutsche Armee die UdSSR angriff und in der ersten Phase des Krieges der Roten Armee eine Serie scheinbar kriegsentscheidender Niederlagen zufügte. Hektographierte Dokumente belegten, dass die Russen noch während ihrer überstürzten Flucht aus Riga alle politischen Gefangenen systematisch erschossen, die einheimischen Juden jedoch an der Flucht nach Osten hinderten. Dann folgten die berüchtigten Bilder jubelnder Letten, die die einrückenden deutschen Truppen in Riga mit Blumensträußen begrüßten, Bilder, die die Russen bis auf den heutigen Tag als Beweis für die Kollaboration der Letten mit dem nationalsozialistischen Gewaltregime heranziehen.
Aber auch dieser Jubel währte nicht lange. Schnell wurde deutlich, dass die Deutschen die "nordischen" Letten zwar germanisieren wollten, dem Großteil des Volkes aber überwiegend dienende Funktionen zugedacht hatten. Die Verfügungsgewalt über ihre Heimat sollten die Letten auf jeden Fall verlieren. Auf den großen Plänen und Skizzen, die hinter Glas im Okkupationsmuseum aushingen, wurde deutlich, dass nicht weniger als 160.000 deutsche Siedler nach dem Ende eine siegreichen Weltkrieges in Lettland angesiedelt werden sollten. Die Ermordung der 70.000 lettischen Juden erschien dagegen nur als Teil der nationalen Leidensgeschichte - was der Ausstellung viel Kritik eingetragen hatte. Allerdings wurde der latente Antisemitismus der Letten in der Ausstellung keineswegs verschwiegen - heimlich aufgenommene Fotografien aus lettischen Gefängnissen zeigten, wie die Nationalsozialisten mit Eisenstangen bewaffnete lettische Kriminelle auf die jüdischen Inhaftierten hetzten, ein schreckliches Kapitel innerhalb der nationalen Tragödie, das im Museum nicht ausgespart wurde.
Das Schwergewicht der musealen Dokumentation beschäftigte sich aber mit dem für Lettland katastrophalen Ende des zweiten Weltkrieges. Hunderttausenden lettischer Männer, Frauen und Kindern,