Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani
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Die Russen
sind an allem Schuld
Manche Grenzen gleichen Inszenierungen des Übergangs. An der Grenzstation von Belize und Guatemala wird der Reisende von knapp zwei Meter großen schwarzen Zollbeamten verabschiedet und von kleinen, rundlichen Indiobeamten in Empfang genommen, die kaum größer als mehr als ein Meter sechzig sind. Am Amur kontrollieren große blonde Russen die Pässe der agilen und kleingewachsenen Chinesen beim Grenzübertritt zwischen Russland und China.
An der estnisch-lettischen Grenze zeigten lediglich zwei Flaggen und ein Zollhäuschen, dass der Bus eine internationale Grenze überfuhr. Estland und Lettland gleichen sich wie ein Ei dem anderen, sagen die Russen, und jeder Blick aus dem Busfenster zeigte, dass diese Aussage nicht übertrieben war. Es war der gleiche Menschenschlag, das gleiche Meeresufer, es waren die gleichen Städtebilder und alles in allem auch die gleichen Physiognomien, die es an den Haltestellen in Estland und Lettland zu betrachten gibt. Die 800.000 Esten und zwei Millionen Letten diesseits und jenseits der Grenzen verbindet nicht nur die gleiche Herkunft aus dem Innern Asiens, eine ähnliche Sprache, Geschichte und Küche, sondern auch die gleiche enthusiastische Liebe zu ihrer baltischen Heimat.
Natürlich war auch das Wetter in Estland und Lettland identisch. So setzte sich der Regen, der uns in Pärnu die Nerven strapaziert hatte, auch während unserer Reise nach Lettland fort. Grau und nass erstreckte sich die Küstenstraße den Golf von Riga entlang nach Süden, immer neue Regenschauer rauschten von der Ostsee über das Land, und als wir die Peripherie von Riga erreichten, verschwanden die endlosen Plattenbauten in einem geradezu amphibischen Dunst. Auf dem Busbahnhof eilten die Menschen mit Regenjacken und Rucksäcken durch die Hallen, nasse Hunde liefen bellend über den Vorplatz. Überall saßen Frauen mit Kopftüchern, Wollwesten und Plastiktüten in den Wartehallen.
Doch so schlecht das Wetter in Riga auch war, an Gästen schien es der Stadt nicht zu mangeln, denn alle preisgünstigen Unterkünfte, die wir ansteuerten, waren voll. Schließlich führte uns der Zufall in die Bahnhofsgegend zum "Aurora", einem Etagenhotel mit düsterem Treppenhaus, langen Fluren und einem Empfangschef, der uns mit kaum verhohlener Skepsis musterte. Ich konnte es ihm nicht verdenken, denn wir sahen nach der langen Tagesreise stark mitgenommen aus, und die nassen Hosen und Hemden, die uns am Körper klebten, machten unsere Erscheinung nicht einladender. Außerdem waren wir doch Westler. Was also machten wir in dieser Absteige für fliegende Händler, Liebespaare und Halunken? Ich wusste es auch nicht, war aber trotzdem dankbar, als er uns nach einigem Zögern endlich den Schlüssel zu dem letzten freien Zimmer gab. Es handelte sich um eine Etagennische, die nur durch eine dünne Wand vom Treppenhaus abgetrennt war, einen langgezogenen Schlauch mit verblichenen Tapeten an den Wänden, einem Waschbecken und zwei Schlafpritschen, die verdächtig knirschten, als wir unsere Rucksack ablegten. Die Türe hing so schief in der Wand, dass ein einziger Tritt genügt hätte, um sie aus den Angeln fliegen zu lassen. Dafür konnten wir von dem kleinen Zimmerfenster aus den Aufmarsch der Prostituierten beobachten, die zu allen Tageszeiten den Reisenden, die den Bahnhof von Riga verließen, ihre Angebote zuriefen, um bei Interesse mit ihrem Kunden sofort im Eingang des „Aurora“ zu verschwinden.
Schon in der ersten Nacht gab es im Hotel ein Riesengeschrei. Ein Freier und eine Prostituierte waren sich über Dienstleistungen und Preise in die Haare geraten. Die Türen knallten, die Fäuste flogen, und mit großem Gebrüll griffen die örtlichen Zuhälter ins Geschehen ein. Dann wurde wieder alles ruhig. Ich blickte aus dem Fenster und sah den nächtlichen Bahnhofsvorplatz im Laternenlicht. Die Straßenstricher rüsteten zu ihrer letzten Schicht, ich kroch wieder ins Bett und schlief gleich ein.
Am nächsten Tag war das Wetter wie ausgewechselt. Ein makelloser Himmel wölbte sich wie ein blaues Zirkuszelt über der größten Stadt des Baltikums. Auch das Personal vor dem „Aurora“ hatte gewechselt, nun waren Marktstände aufgebaut, auf denen Obst und Gemüse, aber auch Kehrbleche, Besen und Regenjacken zum Verkauf standen. Unter den Angeboten einer improvisierten Garküche konnten wir unter Leber, Schnitzel, Frikadellen mit kaltem Gemüse, fetten Würsten und Innereien wählen, die allesamt ebenso scharf gewürzt waren wie der baltische Alltag in diesem Bahnhofsviertel. Dass wir als Touristen am Rande der Vorstadt an einer Garküche aßen, machte uns in den Augen der Bedienung allerdings wenig Ehre. Entweder waren wir geizig, weil wir uns nichts Besseres leisteten, oder wir waren tatsächlich die armen Teufel, die sie in uns zu entdecken glaubten. Auch Stefan war mürrisch: „Herrje, wo sind denn all die wunderschönen Frauen, von denen mir mein Onkel erzählt hat? Die werden doch nicht alle schon im Westen sein?“
Ganz so schlimm war es nicht. Als wir uns der Innenstadt näherten, ein wenig die Boulevards entlang flanierten und auf den Bänken am Ufer der Düna die Menschen beobachteten, tauchten sie endlich auf: die schönen lettischen Frauen, hochgewachsen, schmalhüftig, mit ihren herrlich hohen Wangenknochen - doch leider fast niemals allein, sondern von Männern, Freunden oder Verehrern begleitet. Zu Stefans Missvergnügen mussten wir feststellen, dass es sich bei vielen dieser Begleiter nicht um Einheimische, sondern um Touristen handelte, um Gäste aus dem Westen, die sich genau wie Stefan auf Brautschau im Osten befanden. Diese ungleichen Paare traf man in der ganzen Stadt, sie saßen in den Parks, in den Restaurants oder spazierten die Straßen entlang, mal liefen sie in einem halben Meter Sicherheitsabstand nebeneinander her, mal ergriffen sie sich dann und wann scheu an den Händen. Ein heikles Spiel wurde gespielt, dessen Antrieb die Hoffnung war, die Hoffnung des Westlers, dass ihn seine Brieftasche aus der Einsamkeit erlösen möge und die Hoffnung der jungen Frauen, dass ihnen einer dieser Männer den Weg in ein besseres Leben ebnen würde. Anmut und Not, Energie und Mut war in den Augen der Frauen zu lesen, eine Kombination, aus der alles entstehen konnte: das Glück oder der Untergang. Diese Frauen glichen Spielerinnen in einem makabren Roulette, in dem alles darauf ankam, auf den richtigen Mann zu setzen. Es gab Paare bei denen es nicht ausgeschlossen schien, dass diese Kalkulation aufgehen könnte, bei anderen aber kam es mir so vor, als gingen die Elbenfrauen aus dem "Herrn der Ringe" mit jenen Uruk-hais spazieren, die der böse Zauberer Saruman zur Plage der Welt erschaffen hatte.
Inzwischen hatten wir die Peripherie verlassen und die Innenstadt erreicht. Hier hatte die Stadt die Erinnerung an die bleierne Zeit des Bolschewismus abgestreift wie eine falsche Haut. In den großen Parks flanierten die Menschen, Straßencafés hatten geöffnet, Mode wurde ausgeführt, und auf großen Werbeflächen wurde so selbstverständlich für Luxuswaren geworben, als gehörte Lettland schon seit eh und je zur Internationale der Premiummärkte. Der "Eindruck unendlicher Eintönigkeit", den noch Henning Mankell vor einem Dutzend Jahren in seinem Roman "Hunde von Riga" beschworen hatte, war einer bunten Vielfalt gewichen, die sich von ähnlichen Bildern aus Avignon, Florenz oder Amsterdam kaum noch unterschied. Aber wo war der Muff der Sowjetzeit geblieben? War denn alles nur ein böser Spuk gewesen? Nur noch das eine oder andere klobige Bolschewikendenkmal erinnerte an die bleierne Breschnewzeit - mit ihren gefühllosen Gesichtern wirken die steinernen Schlagetots neben Straßenkapellen und Flohmärkten wie Karikaturen einer untergegangen Epoche. Sogar die Straßenbahnschaffner hatten die obrigkeitlichen Attitüde abgelegt, die Polizisten gaben sich freundlich, und die Taxifahrer waren mit ihren vielfach gestaffelten Einheimischen- und Touristentarifen ohnehin längst in der Marktwirtschaft angekommen.
Soweit der erste Blick auf die große Stadt an der Düna, deren Besucherzahlen sich seit dem Eintritt Lettlands in die Europäische Union vervielfacht haben. Soweit auch der Tenor der Reiseführer, die den Eindruck vermittelten, das ganze Land mit seiner Hauptstadt Riga an der Spitze befinde sich seit dem Beitritt Lettlands zur EU in einem stürmischen Aufbruch nach Europa. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Denn buchstäblich die andere Hälfte der Wahrheit, ziemlich genau die Hälfte der 850.000 Einwohner Rigas, war nicht lettisch, sondern russisch und damit von dem nationalen Jubel, der die Rückkehr Lettland nach Europa begleitet hatte, gänzlich ausgeschlossen. Die russische Armee war schon lange abgezogen, doch die russischen Einwohner Lettlands waren noch immer da - nicht als