Kalter Krieg im Spiegel. Peter Schmidt
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Ich sah aus dem Fenster, während Kruschinsky Kofler das Abendbrot servierte.
Es gab in eigenem Olivenöl geröstete Dosensardinen, Weißbrot, hartgekochte Eier und Tomaten.
Die Mauer war nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Wenn ich das Nachtglas nahm, das neben dem L.D.A. stand, konnte ich in der Dunkelheit – von den hellen Bogenlampen strahlte immer einiges Licht herauf – das Gesicht des Mannes auf dem Wachturm sehen: ein deutsches Gesicht.
Er hätte damit ebenso gut auf dieser Seite der Mauer Versicherungspolicen verkaufen oder die Straße fegen können.
Das einzige, was mich daran immer wieder verblüffte, war die Leere, die es ausstrahlte. Acht Stunden lang Leere!
Über acht Stunden eine nahezu unbewegte Mimik – dieses Phänomen, das den Südländer am Nordländer so maßlos überrascht, wenn es ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass sein Gesicht eine weitgehend unbewegte Masse ist. Kein Ausdruck des Erstaunens oder auch nur des Befremdens, der dem Mann auf dem Wachturm abverlangt wurde, wenn er hinuntersah in das gleißende Licht des Todesstreifens mit seinem Stacheldraht, den spanischen Reitern, den Betonhindernissen, die selbst jetzt noch, so viele Jahre nach dem vorgeblich geplanten Einmarsch des Westens in den Ostsektor, nach Süden ausgerichtet waren, als würde der Feind jeden Augenblick seinen NATO-Helm über die Mauer schieben …
Diese Grenze ist ein Eckpfeiler der Entspannung, stand auf einem weit entfernten Transparent am oberen Drittel einer Backsteinmauer, hinter der ein Betrieb für die Verarbeitung von Natursteinen lag.
Daneben ragte ein graues Gemäuer auf – ein Flachdach mit Turm und zwei Reihen schmaler Fensterchen wie Schießscharten – dessen Zweck ich nie hatte erfahren können. Es war ein verfallener Bau mit staubigen Scheiben, aber keine von ihnen zerworfen, wie das bei alten Häusern im Westen zu sein pflegt.
Hinter einem der Fenster hatte ich einmal eine Gestalt mit einem Fernglas herüberblicken sehen. Auch der Mann auf dem Wachturm sah manchmal zu uns herüber. Aber an der Art seiner Bewegungen – wie sein Fernglas über die Häuser des Westsektors streifte – erkannte ich, dass es reine Routine war.
Der Posten auf dem Wachturm wurde um Mitternacht abgelöst, zur selben Zeit, wenn die letzten Tagesbesucher aus dem Westsektor den Übergang Heinrich-Heine-Straße passierten. Selten sah man jemanden verspätet dort eintreffen, auch Familien mit Kindern bemühten sich, pünktlich zur vorgeschriebenen Zeit die Grenzstelle zu passieren – eine nun schon fast eingeborene Furcht vor der Macht und Willkür der Grenzpolizei.
Dabei waren es ganz verständige Burschen! Durch die Scheiben der Grenzbaracken konnte ich manchmal beobachten, wieder eine dem anderen den konfiszierten Westkaffee wegtrank oder wie sie in Magazinen blätterten, die auch bei uns bis vor wenigen Jahren noch unter dem Ladentisch gehandelt worden waren.
Nur wenig rechts vom Grenzübergang, ein paar hundert Meter neben dem unbebauten Feld, lag das Haus an der Roßstraße, in dem sich das Gegenstück zu unserem L.D.A. befand.
Anfangs war es mir unvorstellbar erschienen, dass die Anlage mit direktem Sichtkontakt arbeitete. Aber gewöhnlicher Funkverkehr ließ sich Orten, dieses System nicht. F. hatte sich die Mühe gemacht, mir auseinanderzusetzen, dass der Lichtstrahl nur ein vierhundert- oder sechshundertstel Millimeter dick war und seine Dauer jenseits der schnellsten Kameraverschlüsse lag (die genauen Daten sind mir entfallen, ich bin technisch nicht besonders versiert) und damit für das menschliche Auge ebenso wie für technische Geräte unsichtbar blieb.
»Sobald man an den technischen Innereien der Anlage herumschraubt, um an ihr Konstruktionsprinzip zu gelangen«, hatte er warnend erklärt, »explodiert das Ding. Und nicht bloß mit Silvesterknall, das können Sie mir glauben. Der Explosionsmechanismus ist mindestens so neu wie das Übertragungsprinzip.«
In all den Monaten hatte ich nie jemanden in dem Dachfenster gegenüber entdecken können.
Der Mann drüben sollte ein ehemaliger Dorfschullehrer sein. Sie hatten die gleiche Doppelscheibe mit der künstlich eingespiegelten Wohnzimmergardine installiert. Abends wurde das Bild einer Wohnzimmerlampe hinzuprojiziert; ihr beigefarbener geblümter Schirm – mit Fransen und Messingstange darunter – verbreitete anheimelndes Licht.
Kruschinsky kam mit einem Tablett auf Koflers Zimmer. »Schreibt an seinem Buch«, murmelte er schräg über die Schulter. »Das Westfernsehen sei genauso schlecht wie ihres drüben. Wissen Sie, was er verlangt hat – ernsthaft?«
Ich schüttelte den Kopf
»Laurel & Hardy-Filme! Er will sie sich über die Video-Anlage ansehen. Ich dachte zuerst, er mache Scherze. Darauf sagte er ziemlich ungehalten: Dick und Doof, falls Ihnen das eher ein Begriff ist – ein Kerl mit seiner Bildung!«
»Besorgen Sie ihm zwei oder drei Kassetten«, nickte ich. »Morgen früh. Er soll seinen Spaß haben.«
Kruschinsky ging an den Datenaustauscher, an dem zwei flackernde rote Leuchtdioden anzeigten, dass er in Betrieb war, setzte das Tablett ab und zog den Papierstreifen aus dem Drucker.
»Lesen Sie das«, meinte er. »Ich glaube, es ist chiffriert.«
Ich sah auf das Blatt. Der Text lautete:
Roter Kakadu nach West-Berlin entflogen. Ankunft Dienstag oder Mittwoch. Schnabelfarbe weiß.
Er musterte mich misstrauisch. »Können Sie was damit anfangen?«
Es wurmte ihn sichtlich, dass er als Nachrichtenexperte keinen Zugang zum Kode besaß. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit seiner Freundin, weil man ihn wegen der Aktion für unbestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen würde.
Ich nickte. »Kakadu bedeutet Messias, und Schnabelfarbe weiß heißt, dass wir nichts Näheres über ihn wissen.«
Er schwieg und blickte mich fragend an.
»Also der Messias kommt nach West-Berlin?«, fragte er missmutig. Wollen Sie mich verschaukeln?« Er schlug mit der flachen Hand auf den L.A.D. »Handelt es sich um Kofler?«, erkundigte er sich dann.
»Höchstwahrscheinlich. Wir wissen es nicht. Es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.«
»Na schön. Und warum der Kode? Sie können die Laserschrift ohnehin nicht entschlüsseln.«
»Offenbar geht es gegen ihre Berufsgewohnheit, etwas gemeinverständlich auszudrücken«, erklärte ich und wandte mich ab, um ihn nicht merken zu lassen, dass mich seine Hartnäckigkeit amüsierte.
Auch mit dem Nachtglas war drüben im Dachfenster der Roßstraße kein Lichtschein auszumachen. Der Widerschein der Bogenlampen unten im Todesstreifen warf schwache Lichtkringel in die Optik. Es gibt keinen Antireflexbelag, der etwas taugt … dachte ich.
Doch gerade die Reflexe waren das Problem. Beinahe alles in der Welt hat irgend etwas mit Reflexen zu schaffen.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Die ganze Welt ist möglicherweise nur – am Anfang war das Wort – ein Reflex der Worte Gottes, die er, dann wohl in einem unbedachten Moment, ausgesprochen haben muss.
Die Strafe ist der Reflex des Urteils und dieses der Widerschein der bösen Tat. Und auch die Melancholie ist, wie mir scheint, nur Reflex – Reflex einer Lebensweise,