Joe & Johanna. Kristina Schwartz
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Mit einem Mal fühlte sich Joe schuldig, fühlte, wie das schlechte Gewissen tief aus ihrem Inneren emporkroch. Sie fragte sich, womit sie es verdient hatte, dies kleine Paradies am Ende von Nirgendwo zu erben, wo sie doch nicht wirklich etwas dafür getan hatte. Dieses mittlerweile mehrfach umgebaute und renovierte Gebäude, dessen Fundamente aus dem 11. Jahrhundert stammten und in dem noch bis 1950 Getreide gemahlen wurde. Erst sperrte sie das Sicherheitsschloss auf. Dann steckte sie mit einer Ehrfurcht, die beim Schlüsselmeister im Tower of London kaum größer sein konnte, den mittelalterlich anmutenden Schlüssel in das massive Schloss. Noch ein metallenes Knacken und die Tür sprang auf.
Feucht staute sich die Luft in den Räumen, die schon lange nicht mehr geatmet hatten. Die Temperatur kaum über der im Freien. Es roch nach Moder und klammen Mauern, nach gebeizten Holzdielen und altersfleckigen Menschen. Langsam, um die Seele der Verstorbenen nicht zu verschrecken, schlich Joe vom Vorraum in die Wohnküche, die ihre Oma immer nur „die Stube“ genannt hatte. Der alte Bretterboden knarzte unter ihren Schritten, als beschwerte er sich über den unangekündigten Eindringling, der ihn mit seinen Stiefeln malträtierte. Ihre Finger strichen über den Tisch und die Anrichte, ihr Blick fiel auf die spinnwebenverhangenen Fenster. Dann ging sie nach oben.
Ein kalter Schauer überlief sie und ließ, trotz Jacke, Pullover und Bluse stehende Härchen an ihren Unterarmen zurück, als sie vor jener Tür stand, die zu ihrem ehemaligen Zimmer führte. Sie sah das kleine Mädchen mit lustigen Augen und geflochtenem Pferdeschwanz, das nie berechnete und kalkulierte, nie an Morgen dachte, nur im Augenblick lebte, das herumtobte, die Stufen hinunterpolterte, um dann mit zerschundenen Knien zu ihrer Großmutter zu laufen. Nie fand diese auch nur ein lautes Wort für ihre Enkelin, immer nur Worte des Trostes und Pflaster, um sie auf die abgeschürfte Haut zu kleben. Tausend Jahre schienen seit damals vergangen zu sein. Mittlerweile hatte sich diese kleine, zappelige Schönheit in eine junge Frau verwandelt. Joe öffnete die Tür, erwartete ihr Bett, das Schaffell und die Kiste mit ihren Spielsachen zu finden, doch alles was sich in ihrem ehemaligen Zimmer verbarg, war staubiges Gerümpel. Sentimentale Tränen liefen über ihre Wangen. Wie gelähmt starrte sie in jenes Durcheinander, als gelte es, darin den Weg in ihre Vergangenheit zu finden. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort gestanden hatte. Waren es Stunden oder bloß Minuten gewesen? Irgendwann schloss sie die Tür und ging nach unten.
Das Haus war tot, so tot wie ihre Großmutter. Im Wohnraum öffnete sie ein Fenster.
Als Kind war sie so gerne auf dem Land gewesen. Warum hatte sie irgendwann aufgehört, hierher zu kommen? Weil es nicht mehr so einfach wie früher war, mit ihrer Großmutter auszukommen? Weil es in Wien als Teenager so viel mehr zu entdecken gab? Weil irgendwann einmal der Zeitpunkt gekommen war, ab dem es „uncool“ war, seine Ferien bei Oma auf dem Land zu verbringen? Weil das Leben unaufhaltsam voranschritt, keine Beständigkeit kannte? Ein eisiger Schauer durchlief sie, schüttelte trotz der dicken Winterjacke ihren Körper, als sie durch die verwaisten Räume ging. Doch etwas war hier, das ihr vertraut erschien, so vertraut, als wäre sie erst gestern hier gewesen. Begierig sog sie die Luft durch die Nase. Richtig, es war der Geruch. Der Duft, von dem niemand sagen konnte woher er kam, woraus er sich zusammensetzte. Er war einfach da. Und er war beruhigend. Was Joe allerdings am meisten faszinierte, war das Empfinden, dass dieser Geruch für sie etwas Unvergängliches hatte. Er vermittelte ihr Geborgenheit. Ein wohliges Kribbeln breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus. Ja, ihre Liebe – war das überhaupt die richtige Bezeichnung? – zu diesem alten Haus existierte nach wie vor.
Ihr Gehirn begann bereits erste Ideen zu fabrizieren, wie sie die Mühle – dass sie sie behalten wollte, stand für Joe außer Frage – renovieren und ihren Bedürfnissen anpassen könnte. All die Dinge, die sie als unbrauchbar einstufte, wollte sie erstmal entsorgen. Nur ein paar Möbelstücke, die nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch von antiquarischem Wert waren, gedachte sie zu behalten. Vielleicht sollte sie diese einem Wiener Restaurator übergeben, damit ...
„Hallo?“, durchbrach eine Stimme die Barriere, die Joes Gedanken von der Realität so sicher abgeschottet hatte. Eine Stimme, deren Gekrächze darauf hindeutete, dass sie ihrem Besitzer schon seit unzähligen Jahrzehnten zu Diensten stand. „Johanna? Bist du wieder da?“ Joe erschrak, als sie ihren Namen hörte, und lief zur Tür. Vor der schweren Holztür stand ein Mann um die achtzig, mit grobporiger Nase und dunkelgrüner Pudelhaube.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Joe stellte sich breitbeinig hin, als gelte es, mit ihrer zarten Gestalt auch optisch ihre Besitzansprüche zu demonstrieren.
„Johanna? Bist du zurück?“ Der Alte sah Joe an, als spräche er zu einem Geist. Dann sagte er: „Du bist ja gar nicht Johanna.“
„Johanna Steinmayr war meine Großmutter“, sagte Joe und streckte dem Fremden ihre mittlerweile eiskalte Hand entgegen. „Ich bin Joe … Johanna Binder, ihre Enkelin.“
Der alte Mann kniff die Augen zusammen, doch alles was er sah, war Joes ungeschminktes Gesicht, eine weiße Fassade vorgetäuschter Distanziertheit. „Schade“, kratzte seine Stimme wie Schleifpapier über Metall, dann wandte er sich ab.
Joe, die wie festgefroren auf dem unebenen Steinboden stand, konnte noch hören, wie er im Weggehen vor sich hinbrabbelte: „Karl, sie ist es nicht, sie ist nicht zurückgekommen“, sagte er in einem fort. „Du hast dich geirrt, Karl. Sie ist es nicht ... ist es nicht.“ Sie sah ihm nach, bis er hinter den Kastanienbäumen auf die Hauptstraße eingebogen war und diese gemächlich und schon etwas klapprig entlang wackelte.
Joes Bereitschaft zum Abenteuer war mit dieser ihr unheimlichen Begegnung nach Weinviertler Art bereits mehr als ausgereizt, und sie beschloss, ihre erste Expedition in die Provinz damit zu beenden. Neil Armstrong hatte während seiner Mondlandung auch nicht gleich das gesamte Mare Tranquillitatis erkundet.
Sie ging zurück in den Wohnraum, um das offenstehende Fenster zu schließen.
Als müsse sie einen Verfolger, der ihr bereits dicht auf den Fersen war, abschütteln, krallte sie sich ihre Handtasche. Sie fand ihren Führerschein, ihre Kreditkarte, ihre Schminkutensilien, eine originalverpackte „Nur Die“-Strumpfhose, ein unbenutztes Kondom, eine Batterie … Wo waren die verdammten Hausschlüssel. Klar, dass sie diese nicht finden konnte, wenn sie sich in ihrer Jackentasche versteckten. Als auf einmal eine schmale, gutaussehende Frau mit blondem Bob in der Zufahrt auftauchte, dachte sie schon, ihr Herz würde nun jeden Moment aussetzen.
Was ist denn auf einmal los? Joe war sich nicht sicher, ob sie es nicht vielleicht doch laut ausgesprochen hatte.
„Was machen Sie hier!?“, fuhr die Blonde sie an. Sie war sicher einen Kopf größer als Joe.
„Ich …“
„Dachte ich mir. Erst brechen Sie in das Haus ein, und dann haben sie nicht einmal eine passende Ausrede.“
„Das ist mein Haus!“
„Wenn Sie herumschreien macht das die Sache nicht glaubwürdiger.“
„Aber es ist mein …“
„Dieses Haus gehört Johanna