Die Schuld des Anderen. Edgar Wallace
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Sie zogen zusammen in das Haus in der Christal Palace Road. Bald genug hatte sie entdeckt, daß er ein Trinker war. Auch daran gewöhnte sie sich und lebte bald glücklicher mit ihm, als sie jemals zu hoffen gewagt hatte.
In finanziellen Dingen war Tom Maple sehr großzügig; er stellte ihr genügend Geld zur Verfügung, und sie war eigentlich durchaus nicht gezwungen, eine Stellung anzunehmen. Es trieb sie mehr der Wunsch nach Unabhängigkeit zu einem Beruf.
Für die Tätigkeit ihres seltsamen Onkels interessierte sich Verity sehr. Stundenlang konnte sie neben ihm sitzen und beobachten, wie er mit sicherer Hand feine, schöngeschwungene Linien in Stahlplatten grub. Tom Maple wurde von einer Gravieranstalt, die Banknoten herstellte, sehr gut bezahlt. Seine Auftraggeber kannten ihn und wußten seine Arbeit zu schätzen. Sie schienen ihn so notwendig zu brauchen, daß sie selbst seine üblen Gewohnheiten übersahen.
An dem Abend nach Golds Besuch hielt sich Verity noch im Wohnzimmer auf. Sie saß am offenen Kamin und las in einem Buch, als sie plötzlich den leichten Schritt ihres Onkels draussen auf dem Gang hörte. Er ging an der Tür vorbei, blieb dann zögernd stehen und kam zurück. Die Tür wurde geöffnet, und er kam herein. Sie sah ihn an.
»Kann ich etwas für Dich tun, Onkel?«
Sein Gesicht war noch bleicher als sonst. Die Wangen schienen ihr noch eingefallener, die Augen von noch dunkleren Rändern umschattet. Er schaute sie eine Weile wortlos an, dann nahm er einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber.
»Verity«, sagte er schließlich ernst, »ich habe über dich nachgedacht und mir überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn ich dir etwas über mich erzählte.«
Er seufzte schwer und sah ihr dann fest in die Augen.
»Mein Leben war sehr merkwürdig«, begann er langsam. »Du weißt nicht so richtig Bescheid über meine Vergangenheit, wie?«
Sie sah ihn lächelnd an und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nur, daß du mir ein guter Onkel bist.«
Er machte eine abwehrende Handbewegung.
»Du darfst nicht so gut von mir denken. Ich bin nicht ganz der, für den du mich hältst.« – Er sah sie ernst, fast traurig an. – »Wenn mir etwas zustoßen sollte«, fuhr er dann fort, »so möchte ich, daß du einen bestimmten Herrn in London aufsuchst.« Mit diesen Worten zog er seine Brieftasche hervor.
»Ich will dir etwas geben. Ich habe dich neulich um deine Unterschrift gebeten, weil ich dir ein Konto in der Londoner Nordwestbank eröffnet habe. Es ist kein großes Vermögen«, sagte er schnell, als er ihre Freude bemerkte, »aber es wird dich vor Not schützen, wenn mir etwas passieren sollte.«
»Was sollte dir denn passieren?« fragte sie ihn ängstlich und bestürzt.
Er zuckte nur die Schultern.
»Das kann man nie wissen«, meinte er melancholisch.
Er nahm ein Scheckbuch aus der Brieftasche, auf dem der Name der Bank stand.
»Hebe es gut auf«, sagte er, als er es ihr überreichte. »Übrigens mußt du doch langsam auch ans Heiraten denken.«
Sie schüttelte nur lachend den Kopf.
»Die meisten Mädchen schütteln den Kopf, wenn sie ein solches Ansinnen hören«, meinte er, plötzlich wieder vergnügt, »und dann heiraten sie doch alle!«
Er nickte ihr zu und wollte eben aus dem Zimmer gehen, als sie sich an seine Worte von vorhin erinnerte.
»Onkel, du hast mir noch nicht den Namen des Mannes gesagt, an den ich mich wenden soll.«
Er gab nur zögernd die Antwort.
»Ich meine Comstock Bell – später werde ich dir einmal mehr von ihm erzählen.«
Im nächsten Augenblick war er gegangen. Sie folgte ihm nachdenklich mit den Blicken.
Was mochte er mit den Andeutungen über sein früheres Leben gemeint haben? Sie war nun alt genug, um zu wissen, daß seine häufigen Namensänderungen eine ernstere Bedeutung gehabt haben könnten. Fast wünschte sie jetzt, daß sie ihm zugeredet hätte, offen zu sprechen.
Sie schaute auf die Uhr. Um sechs sollte sie sich bei Mr. Cornelius Helder vorstellen. Es kam ihr ein wenig seltsam vor, daß er sie in seine Privatwohnung in der Curzon Street gebeten hatte.
Helder bewohnte mehrere Räume in dem Haus Nr. 406.
Das Gebäude gehörte einem Hausmeister, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und hier nun eine gutgehende Pension unterhielt. Die Mieter bekamen im allgemeinen zwar nur das Frühstück, konnten auf Wunsch aber auch größere Mahlzeiten bestellen.
Verity Maple wurde sofort ins Wohnzimmer geführt. Als sie eintrat, saß Helder vor einem großen Schreibtisch, der mit Druckproben und Zeitungen bedeckt war.
Er erhob sich und gab ihr die Hand.
»Nehmen Sie bitte Platz, Miss Maple. Es tut mir leid, daß ich Sie hierherbitten mußte, aber ich konnte Sie aus Zeitmangel nicht in meinem Büro empfangen.«
Er sprach kurz und geschäftsmäßig, so daß der unangenehme Eindruck, den sie von ihm hatte, rasch wieder verflog.
»Ich habe eine interessante Arbeit für Sie. Können Sie französisch?«
»Ja«, sagte sie und nickte.
»Ich bin nämlich Mitherausgeber einer kleinen Zeitschrift, für die Sie sich in Zukunft interessieren müssen.«
Die Gehaltsfrage wurde besprochen, und Verity wunderte sich, mit welcher Bereitwilligkeit Mr. Helder auf ihre Wünsche einging. Sobald die rein geschäftliche Seite der Unterhaltung beendet war, erhob sie sich.
»Bis morgen früh also«, sagte er und begleitete sie zur Tür.
Verity Maple war sich nach dieser ersten Unterredung mit ihrem neuen Chef nicht ganz klar darüber, ob sie richtig gehandelt hatte, diese Stellung anzunehmen. Als sie sich schon ein Stück von Mr. Helders Haus entfernt hatte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um. Es war Mr. Helder, der ihr nachgelaufen kam.
»Ich muß zur Oxford Street«, sagte er atemlos. »Da haben wir doch denselben Weg, nicht wahr?«
Sie hätte ihm gern gesagt, daß dies nicht der Fall sei, aber er beachtete sie gar nicht weiter, sondern erzählte munter von den Annehmlichkeiten eines neuen Motorbootes, das er sich kaufen wollte, und nannte als Kaufpreis eine Summe, vor der ihr schwindelte. Dann sprach er über sonstige Geldgeschäfte, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen.
In der Oxford Street trennten sie sich, und sie seufzte erleichtert auf, als er sich von ihr verabschiedet hatte.
Auf Helder hatte das hübsche Mädchen großen Eindruck gemacht. Er hatte zwar schon viel von ihr gehört, aber nicht gedacht, daß sie so gut aussah.
Er schaute ihr nach, bis sie in der Menschenmenge verschwunden war, dann winkte er einem Taxi und fuhr zum Klub.
Als Verity zur Victoria Station kam, war ihr