101 Diamanten. Gudrun Anders
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Eines lauen Sommerabends saß der König vor dem Gasthaus und genoss die Milde des Abends, als ein langer Trupp Wagen die Straße herunter kam, die direkt zum Schloss führte. „Was soll das?“ fragte der König, aber keiner konnte ihm diese Frage beantworten. „So einen langen Wagentrupp habe ich hier bei uns noch nie gesehen!“ rief der König. „Das muss ich mir näher ansehen.“ Er schwang sich auf sein Pferd und ritt dem Trupp entgegen. Seine Diener folgten ihm. „Halt!“ sprach der König, als er den Trupp erreicht hatte. „Was macht ihr hier?“ fragte er den Mann, der an der Spitze des Zuges ritt.
„Wir bringen Verpflegung und Kanonenkugeln für die Königin. Bitte lasst uns durch, “ sprach der Mann.
„Gern“, sprach der König und machte kehrt in Richtung Gasthaus.
„Aber König, wie kannst du den Trupp hindurch lassen? Es ist doch offensichtlich, dass deine Schwester Krieg gegen uns führen will. Wie kannst du sie dabei noch unterstützen?“ fragten die Diener.
„Aber ich unterstütze sie doch gar nicht“, meinte der König und fing an, sich andere Kleider anzuziehen. „Wir werden uns einen Wagen nehmen und uns unauffällig mit in den Trupp mischen. Auf diese Weise gelangen wir in das Schloss!“ Und alle waren von dieser Idee des Königs begeistert und stimmten sofort dem Plan zu. So reihten sich der König in Verkleidung und seine Mannen unter den Trupp und kamen unerkannt ins Schloss. Dort angekommen, machten sie sich sofort auf den Weg zu den Gemächern der Schwester. Die Diener, die sich unterwegs trafen, schlossen sich ihnen sofort an, denn alle waren mittlerweile froh, den König zu sehen, da alle der Knechtschaft überdrüssig wurden und auch keinen Krieg wollten. Ohne anzuklopfen drangen sie in die Gemächer der Schwester ein. Dieser erschrak sehr, rief nach ihren Dienern, aber es hörte keine mehr zu, denn alle hatten sich bereits auf die Seite des Königs und damit auf die Seite des Guten geschlagen. „Du hast leider keine Chance mehr“, sagte der König ein wenig wehmütig.
„Entscheide dich: ich biete dir an, hier auf dem Schloss zu leben, allerdings unter der Bedingung, die Gesetze des Guten anzuerkennen und sich Ihnen zu unterwerfen. Solltest du das nicht wünschen, so fordere ich dich auf, auf der Stelle das Schloss zu verlassen und deine Kanonenkugel mitzunehmen, denn in meinem Lande gab es niemals Krieg - und es wird die welchen geben! Also sprich: Wie entscheidest du dich?“
Die Schwester fing an zu weinen und vergrub ihr Gesicht in einem Kissen, damit man sie nicht sehen konnte. Nach einer Weile des Schweigens sah sie mit verweinten Augen ihren Bruder an und stammelte: „Wenn du mir meine Missetaten verzeihen willst, so würde ich gern bei dir bleiben und versuchen, mich im Guten zu üben, um ebenso wie du ein guter Mensch zu werden!“ und in ihren Augen war die stumme Bitte nach Verzeihung zu lesen.
„Gut“, sagte der König, „ich verzeihe dir, denn vom Bösen geblendet werden wir alle einmal. Das Wichtigste ist, das wir den Weg zum Guten wieder finden und diesen dann unbeirrt gehen. So sei dir verziehen. Ich hoffe, du hast daraus gelernt und bist jetzt in der Lage, das Gute zu sehen und zu leben!“ Schluchzend fiel die Schwester dem König in die Arme und versprach ihm von Herzen, jetzt ein für alle Mal auf der guten Seite des Lebens zu stehen. Einige Zeit später ging die Kunde im Land um, dass aus der einstigen Hexe eine gute Fee geworden war.
Die Umkehr des Schutzmannes
Es war einmal ein kleiner Schutzmann, der von der teuflischen Regierung den Auftrag bekommen hatte, das Böse zu schützen. Das Böse sollte um alles in der Welt vor dem Guten bewahrt werden. Denn wenn sich das Gute erst einmal in die Herzen der Menschenkinder eingeschlichen hat, so waren diese hoffnungslos verloren. Das jedenfalls glaubte die große Versammlung der Teufel und so wurde jemand ausersehen, der auf der Welt für Ruhe und Ordnung im Sinne der teuflischen Regierung sorgen sollte. Er wurde Schutzmann getauft, bekam eine schwarze Uniform mit weißen Passen angezogen und einen Knüppel in die Hand.
Jedes Mal, wenn er jemanden traf, so lautete sein Auftrag, der nur Gutes für die Menschenkinder will, sollte dieses Menschenkind einer Prüfung unterzogen werden. Es sollte den Zauberspruch des Bösen aufsagen, damit es weiter auf Erden leben könne.
Konnte das Menschenkind den Zauberspruch nicht aufsagen, so sollte es fortan alle paar Tage von neuem überprüft werden und jedes Mal, wenn das Menschenkind die Antwort nicht kannte, mit dem Knüppel ein Mal geschlagen werden. Die teuflische Regierung war der Meinung, dass diese Maßnahme die Menschenkinder schon zur Vernunft bringen würde.
Eines Tages an einem schönen Frühlingstag begegnete unser Schutzmann einer kleinen Fee, die zart und lieblich anzusehen war. Sehr alt und weise kann die Fee noch nicht sein, dachte der Schutzmann, denn sie sieht so brav und unschuldig aus. Und eigentlich wollte er von einer Prüfung Abstand nehmen, aber er war auch ein gewissenhafter Schutzmann und wollte seine Pflicht erfüllen. Und so ging er auf die Fee zu.
„Guten Tag, kleine Fee“, sagte der Schutzmann. „Ich bin, wie du sicher weißt, der Schutzmann der teuflischen Regierung und ich möchte dich überprüfen. Wie lautet der Zauberspruch? Sprich!“
„Ich kenne deine Zaubersprüche nicht und will sie auch nicht kennen“, sagte die kleine Fee ganz ruhig und bestimmt. „Ich kenne nur das Gute. Dafür wurde ich von der himmlischen Regierung hier her gesandt. Warum also sollte ich dir deinen teuflischen Zauberspruch aufsagen?“
„Das gehört sich so“, sagte der Schutzmann. „Auch das Böse muss leben. Also: Wie lautet der Zauberspruch?“
„Ich wiederhole: Wir Feen aus dem Reich der himmlischen Regierung kennen eure Zaubersprüche nicht und wir wollen sie auch nicht kennen.“
„Aber ich muss euch mit meinem Knüppel schlagen, wenn ihr mir den Zauberspruch nicht nennt. Das ist mein Auftrag, den ich erfüllen werde. Aber eigentlich möchte ich euch nicht weh tun. Wenn ihr mir aber den Zauberspruch nicht nennen könnt, so muss ich meine Pflicht erfüllen!“ sprach der Schutzmann.
„Ich kann euch den Zauberspruch nicht nennen“, sagte die kleine Fee und blickte dem Schutzmann immer noch geradewegs und ohne Angst in die Augen.
„Gut, dann soll es so sein“, sagte der Schutzmann und holte mit seinem Knüppel zum Schlage aus. Als er aber den Arm erhoben hatte, blieb der Arm in der Luft stehen und der Knüppel fiel ihm aus der Hand.
„Schlagen ist für Dumme und Schwache, die sich nicht mehr zu helfen wissen“, sagte die kleine Fee. „Wer aber das Gute will, ist auf dieser Welt immer der Stärkere, denn die Guten sind wissend und Wissende sind stark. Selbst wenn du uns mal schlagen kannst, wir werden es dir verzeihen und selbst dann noch versuchen, auch dich auf den rechten Weg zu führen.“
Die kleine Fee hob den Knüppel auf und ging damit zu einem nahe gelegenen Brunnen. „Auf das du nichts Böses mehr auf dieser Welt tust“, sprach die kleine Fee und ließ den Knüppel in den tiefen Brunnen fallen. Der Schutzmann unterdessen blickte die kleine Fee verwundert an, den Arm, mit dem er die Fee zuvor schlagen wollte, noch immer willenlos in die Luft erhoben.
„So“, sagte die Fee. „Das Werkzeug des Bösen haben wir schon unschädlich gemacht. Jetzt bist du an der Reihe. Bitte folge mir. Den Arm kannst du jetzt herunter nehmen.“ Und treu und brav, wie von magischer Hand gezogen, trabte der Schutzmann hinter der kleinen Fee her. Bald kamen sie zu einem Wasserfall.
„So, da wären wir“, sagte die kleine Fee. „Bitte gehe so, wie du