Schulpsychologie -. Jürgen Mietz
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Beispiele zwiespältiger Versuche der Erneuerung
Eine Schulleiterin unterstützt es, dass sich eine Teilgruppe ihres Kollegiums in Supervision begibt. Sie verschließt sich jedoch einer Diskussion der Ergebnisse, die die Identität der Schule, die Inhalte und Strukturen der Zusammenarbeit und ihre Leitungstätigkeit berühren. Im Grunde versteht die Leiterin Supervision als Therapie für Lehrer und Lehrerinnen, nicht als Entwicklungsmöglichkeit für die Schule. Wohl gewinnen die Mitglieder der Gruppe erweiterte Kenntnis über sich und die Institution, was Letzterer jedoch kaum zugutekommen kann. Eher ist es so, dass der geschärfte Blick der Teilnehmer für die eigene Person und für die Institution Wünsche nach Schulwechsel oder Resignation entstehen lässt.
Häufig kommt es vor, dass kleine Lehrer/innen-Gruppen mit Schülern und Schülerinnen an bestimmten Themen arbeiten. Bei allen Beteiligten stößt das auf positive Resonanz. Diese weicht jedoch oft einer Ernüchterung: Die Aktivitäten werden zur Imagepflege der Schule (Werbung für Eltern, Artikel im Lokalteil der Zeitung) verwendet und der "alten" Schule äußerlich angeheftet. Diese bleibt so, wie sie ist. Das Neue, wenn es nicht als schöne Erinnerung ins "Archiv" wandern soll, ist bald etwas Zusätzliches, was den gewohnten und bevorzugten Ablauf stört. Die Aktivitäten der "Neuerer" fließen nicht in die pädagogische Diskussion der Schule ein.
Ein anderer Fall von Zwiespältigkeit: Drei Abteilungsleiter einer Schule befinden sich in Supervision. Aus der Erforschung der Potenziale ihrer Person, aus einer Analyse ihrer Rolle an der Schule ergeben sich Einsichten in Verstrickungen, in selbstgestellte Fallen und Ansätze für neue Strategien. Ein Aspekt der Untersuchung ist, dass die "Engagierten" der Schule sich zu einem überwiegenden Teil aus Leitungsleuten rekrutieren; den Schulleiter halten sie für "ansprechbar". Das Kollegium seinerseits sei aufgeschlossen für Fortbildungstage (Kennenlernen von Entspannungstechniken; schülerorientierter Unterricht). Allerdings übernehme es kaum Verantwortung im Sinne der Entwicklung von neuen Ideen und Konzepten, die sich aus den Fortbildungen ergeben könnten. Verschiedenerlei wird deutlich:
die "Engagierten" bearbeiten die Kollegen im Muster der "alten Schule" mit moralisierenden und pädagogisierenden Überzeugungsversuchen; sie erzeugen damit die schulübliche Widerständigkeit, bauen das auf, was sie zu überwinden hofften. Obwohl sie den Eindruck hatten, Individualität der Kollegen fördern und nutzen zu wollen, hatten sie nicht erkannt, wie sehr sie in der Praxis selbst belehrend waren, die alten Strukturen beibehielten und die Kollegen auf sie "schülerhaft" (Individualität rettend) widerständig reagierten.
die Kollegen und Kolleginnen saugen Service-Angebote für die Psychohygiene auf, ohne dass das in Interesse oder Engagement für die Veränderung der Schule münden müsste;
bei aller "Ansprechbarkeit" des Schulleiters für Neuerungen hat der Überlegungen zu grundsätzlichen Umorganisierungen wie Teambildung u.ä., welche erst eine ernsthafte Herausforderung für Persönlichkeit und Ideenentwicklung wäre, nicht vorangetrieben; die "Service-Angebote" hat er unterstützt.
die Fülle der Aufgaben für die Leitungsleute, wie auch die Befangenheit im alten Entwicklungsmodell lassen praktisch keine Gelegenheiten für Zusammenarbeit und Reflexion der Ziele und Mittel aufkommen; es wird viel gearbeitet, "Sinnproduktion" findet nicht statt; nun taucht zum ersten Mal der Gedanke auf, die Zuschnitte der Verantwortlichkeiten, die Inhalte der Aufgaben der Abteilungsleiter zu überdenken; dazu muss der Schulleiter hinzugezogen werden, seine persönlichen "Visionen" werden angesprochen sein, ebenso wie die Frage nach den Spielräumen der Organisationsfreiheit der Schule;
Fazit: Die Mehrzahl der Kollegen und Kolleginnen hat bewusst oder intuitiv die Realität der weiterhin geltenden, beharrenden schulischen Strukturen und Inhalte erfasst und sich von fragwürdigen Veränderungsversuchen ferngehalten; die Entlastungen, die das Engagement einzelner Kollegen ermöglichte, hat das Kollegium gerne wahrgenommen. Der Schulleiter (wie auch die herrschende Schulpolitik) haben, wenn auch "nur" symbolisch und nicht explizit, so doch konkret genug zum Ausdruck gebracht, was an Veränderung möglich ist und was nicht. Den Teilnehmern der Supervisionsgruppe bleibt, sich aufs Neue nach ihrer Rolle in diesem Geschehen zu fragen.
Diese Beispiele zeigen, wie nah Veränderungswille, Ansätze der Veränderung und deren Zerfall beieinanderliegen. Es gibt für Lehrer und Lehrerinnen, für Leiter und Leiterinnen (noch) keinen echten Grund, sich umzuorientieren. Es gibt noch nicht die Umwälzung von einer zentralistischen und funktionalisierenden Bildungsorganisation zu einer individualisierenden, Verantwortung und Kooperation erfordernden und fördernden Bildungsorganisation. Dieser Zustand hat einen hohen Signal- und Symbolwert.
6 Schlussbemerkungen
Offensichtlich fällt es uns schwer, von den Strukturen des fürsorglichen Zentralismus und den Illusionen der Planbarkeit Abschied zu nehmen. Die individuell immer schon zwiespältige Geborgenheit durch Unterwerfung wird nun zu einem gesellschaftlichen Risiko. Die generationenlang eingeübte Skepsis und Feindseligkeit der Individualität gegenüber macht es uns schwer, in ihr die Keimzelle von Erneuerung und Entwicklung zu sehen. So ist die Anrufung der "Gemeinschaft", wie sie immer wieder zu hören ist, in der Regel eine Fortsetzung der Vorstellung, dass das Individuelle einen gefährlichen Kern birgt und dass es Mächte geben muss, die es im Zaume halten.
In dieser Position wird auch das eigene Individuelle als "gefährlich" abqualifiziert, aber auch unter Kontrolle gebracht. Loslassenkönnen ist immer mit einem Risiko behaftet - im Offenen Unterricht, wie in der Individualisierung der Schulen. Die Vorstellung der Chaotisierung, wenn die Führung fehlt, scheint ein gutes Argument zu sein, langsam voranzugehen. Das bedeutet aber leicht, alles beim Alten zu lassen.
Andererseits ist nicht von der Hand zu weisen, dass Chaotisierung eintreten könnte. Der ist nur vorzubeugen, indem zum einen die Destruktivität und die Überholtheit des "alten" Modells erkannt werden; zum anderen kommt es darauf an, die anstehenden Entwicklungsprozesse tatsächlich individuell gestalten zu können. Bis dahin, den psychologischen Gründen nachzugehen, wie schon der Gedanke an ein Mehr an Freiheit Befürchtungen von Chaos und Übersichtlichkeit aufkommen lassen kann.
Es ist ersichtlich: Der Wandel zu einer Schule, die sich aus sich ständig erneuert, kann nur mit den Menschen und ihrer Geschichte gemacht werden, nicht über sie hinweg und an ihnen vorbei. Er setzt voraus und entwickelt Bürgersinn. Die Frage nach der "neuen" Schule wirft Fragen nach der Selbstorganisation auf, die ohne Individualität nicht entstehen kann. Sie wird erst dann umfassend zum Zuge kommen können (wie auch die hier vorgestellte Psychologie), wenn Teambildung, Bildung teilautonomer Gruppen, Selbständigkeit von Schulen, Qualitätsentwicklung und Evaluation auf der Tagesordnung stehen.
In solcher Lage erst könnte es in der Breite den Schwung geben, die Schatzkiste der individuellen Ressourcen zu öffnen. Diese Produktivkraft zu nutzen und zu entwickeln, könnte eine vornehmliche Aufgabe der Schule sein. Die Missachtung der Produktivkraft "Individualität" dagegen ist destruktiv – ein Zustand, der häufig heute noch als natürlicher Zustand von Schule akzeptiert ist.
(kleinere Korrekturen 2009)
Literatur
ADORNO, Theodor W.: Individuum und Organisation, in Soziologische Schriften, Suhrkamp, 1979
BAUMAN, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Fischer 1995
BECK/BECK-GERNSHEIM: Das ganz normale Chaos der Liebe, Suhrkamp 1990
BRUNKHORST,