Schulpsychologie -. Jürgen Mietz
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3.3 Individualität als Einheit der Widersprüche aus väterlichen und mütterlichen Systemen
Aus den Vorgaben der unterschiedlichen väterlichen und mütterlichen Systeme muss das Kind seinen eigenen Weg finden, seine Persönlichkeit entwickeln.
Die Vorgenerationen sind im Kind enthalten und gleichzeitig repräsentiert das Kind damit neue Qualität. Im Kind entsteht Neues aus bis dahin unabhängigen Systemen. Aus der Verarbeitung der Unterschiedlichkeiten und Gegensätzlichkeiten entsteht die besondere Dynamik des Kindes, seine einmalige Persönlichkeit.
Es kann sie nutzen, wenn von den Eltern die Unterschiedlichkeiten zugelassen werden können, m.a.W.: das Kind "darf" und kann Ergebnis mütterlicher und väterlicher Geschichte sein.
Hindernisse für Entwicklung
Hindernisse für Entwicklung ergeben sich aus fehlenden Identifikationsmöglichkeiten, möglicherweise durch Tod, Flucht, Vertreibung, Auswanderung; oder durch gegenseitige Abwertung und Ablehnung der Eltern, die auf das Kind übertragen werden, die das Kind sich aneignet. Für das Kind heißt das, dass es etwas in sich hat - denn es definiert sich über beide Eltern -, was aus väterlicher oder mütterlicher Sicht wertlos, unbrauchbar, negativ ist. Damit hat es Schwierigkeiten, sich als wertvoll "ausgestattet" zu verstehen: Es ist unsicher, irritiert, wechselhaft usw.
Beispiel: Der Vater eines Kindes hält viel davon, seinen Sohn zu fordern und zu beanspruchen. So hat er es von seiner Mutter und seinem Vater kennengelernt. Die Anforderungen sind eingebunden in Vorstellungen über die Männerrolle und über die zukünftigen Aufgaben des Mannes als Ernährer einer Familie.
Die Mutter des Kindes hält einen solchen Stil für "zu hart". Sie hat erlebt, wie ihr jüngerer, kränklicher Bruder von der Mutter beschützend und schonend betreut wurde. Bei ihrem eigenen Kind hat es Probleme während der Schwangerschaft gegeben. Mit diesen unterschiedlichen "Programmen" treten die Eltern nun an ihr Kind heran. Für das Kind heißt das, dass es nicht weiß, wie es sich fühlen soll: Ist seine Handlungsfähigkeit eingeschränkt und ist es schonbedürftig oder ist es handlungsfähig und belastbar? Und: Orientiert es sich am Vater, erschrickt es die Mutter; orientiert es sich an der Mutter, ist der Vater unzufrieden.
Beispiel: Ein Schulleiter mag nicht leiten. Er versteht sich als Vermittler, kommt aber damit immer mehr unter Druck. Aus seiner Familiengeschichte ergibt sich, dass seine Mutter aus einer Kleinunternehmerfamilie stammt; sie ist mit dem entscheidungsfreudigen Vater identifiziert, ist auch das Denken in Kosten-Nutzen-Kategorien gewöhnt. Der Vater des Schulleiters war Arbeiter. Für den Arbeiter ist das Kosten-Nutzen-Denken des Unternehmers Abhängigkeit und Einkommenschmälerung, für den Unternehmer ist der Arbeiter ein Kostenfaktor. Das Kind, der spätere Schulleiter, war zwischen diesen beiden Philosophien der Gegnerschaft neutralisiert.
Warum, mag man fragen, tun sich Leute mit so gegensätzlichen Einstellungen zusammen? Bei weiterer Analyse stellt sich oft heraus, dass in jedem System die Negation schon selbst enthalten, sie ihr also nicht fremd ist. Im letztgenannten Beispiel hatten die väterlichen Großeltern ein kleines Geschäft, welches eingegangen war. In der Familie der Großeltern mütterlicherseits gab es abhängig Beschäftigte, die abwertend als "Proleten" betrachtet wurden.
Im Partner lässt sich die "interne" Negation nach außen verlagern und gleichzeitig "weiterbearbeiten", im Kind der nachfolgenden Generation verdichtet sie sich zu einer Entwicklungshemmung. Daraus entwickeln sich dann Persönlichkeiten, die bemüht sind, nichts Eigenes zu haben und sich über Ausgleich, Vermittlung und Harmonisierung definieren; sie können es evtl. nicht ertragen, wenn sich Identität und Unterschiedlichkeit in ihrer Person und in ihrer Umgebung zeigen. Für Institutionen, die auf Stabilität angelegt sind, und sich nicht mit ihrer Umgebung austauschen müssen oder sollen, erfüllen sie ihren Zweck.
Eine andere Erscheinung, die zum Entwicklungshindernis werden kann, sind Doppelungen, die im ungünstigen Fall Entweder-Oder-Konstellationen zur Folge haben. Sie bergen im günstigen Sowohl-Als-Auch-Fall zusätzliche Entwicklungsmöglichkeiten.
Wachsende Bedürfnisse nach Individualisierung, aber auch Tod, Trennungen, Scheidungen bringen es mit sich, dass Eltern sich mit neuen Partnern zusammentun. So sehr das manchen als gängig und selbstverständlich erscheinen mag, so wenig ist es vielen Individuen und der gesellschaftlichen Konvention möglich, Kinder sich mit zwei Personen in der Vater- oder Mutterposition identifizieren zu lassen. Implizit oder explizit ergeht die Aufforderung an das Kind, einen Teil seiner Existenz zu vergessen, ihn zu löschen.
Ist es gezwungen, Vater 2 oder Vater 1 zu »löschen«, heißt das, einen Teil von sich zu negieren, negieren zu müssen. Auslöschung, Bekämpfung wird Teil des "Programms", Teil der versammelten Lebenserfahrung, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Dieser Destruktivität, die auf aufklärerisch-naturwissenschaftlichen Konzepten der Einfachheit und Eineindeutigkeit beruht, ist nur beizukommen, wenn sich individuelle und gesellschaftliche Normen wandeln. Können Menschen mit einer solchen Doppelung oder mehreren Doppelungen in ihrer Familiengeschichte "multiple" Persönlichkeiten sein, stellt das für sie und die Gesellschaft Entwicklungspotenzial dar. Sie haben in sich das Strukturmodell, welches für Zukunftsgestaltung immer wichtiger wird. Mit Differenz offen und gestaltend umgehen zu können (statt Einfachheit und Eindeutigkeit mit Macht herzustellen) wird angesichts der Zunahme von unterschiedlichen Lebensentwürfen, des Zusammentreffens von Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaften und Regionen immer dringlicher.
3.4 Bewusstsein - Selbstbewusstsein
Bewusstsein ist in dieser Konzeption das Wissen um die eigene Geschichte und um die eigenen Widersprüche. Weiterhin gehört dazu eine Kenntnis über Funktionsweisen des Gesellschaftlichen und wie die Person sich mit dem Gesellschaftlichen austauscht, auf es einwirkt und sich darüber am Leben erhält.
Selbstbewusstsein ist das Wissen um die Strukturen und Inhalte der in Generationenarbeit gewachsenen Lebenserfahrungen, die "meine" Gestaltungsrundlage sind. Aus ihnen leitet sich das Wissen um das "eigene Besondere" gegenüber dem Allgemeinen ab. Dieses Selbstbewusstsein versteht sich also anders, als es gemeinhin üblich ist: Es entsteht nicht in erster Linie aus erfolgreichem Handeln, aus Lob und Anerkennung. Im Gegenteil: Es ist relativ unabhängig davon.
Es lohnte sich darüber nachzudenken, welche Funktion Lob und Anerkennung in Schule haben; weshalb Schüler Lob oft nicht "vertragen"; was mit Lob erreicht wird, wenn es "anschlägt". Und welche Möglichkeit Schule bietet, Bewusstsein und Selbstbewusstsein im hier skizzierten Sinne zu entwickeln.
3.5 Fazit
Um desintegrierenden Formen gesellschaftlicher, institutioneller und individueller Differenzierung Gestaltungspotenzial gegenüberzustellen,