Spiritualität - ganz ohne Spiritualität. Anton Weiß
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Das ist eine von vielen von Hunderten von Fragen, die Weisen von Suchenden gestellt werden, und in der Regel bemühen diese sich, darauf eine Antwort zu geben. Die Frage ist aber rein vom Verstand, also vom Ich her gestellt, und keine noch so einleuchtende und richtige Antwort wird auch nur das geringste bewirken. Solange nicht begriffen wird, dass genau dieses Ich, das die Frage stellt, transzendiert werden, also über Bord gehen muss, solange wird absolut nichts passieren. Der Fragesteller fühlt sich mit einer zufriedenstellenden Antwort nur um so sicherer in seinem Ich-Gebäude.
Zwei weitere Beispiele: Bei Harding (86) stellt ein Teilnehmer folgende Frage: „Glauben Sie, dass Gefühle wie das des Mitgefühls als etwas gelten könnte, das von dem Einen herkommt?“ Bei Kruse (197) äußert ein Teilnehmer: „Dass kein Denker oder Macher oder Besitzer da ist, das sehe ich. Und was mache ich jetzt damit?“
Solche Fragen und deren Beantwortung bringen den Fragesteller keinen Schritt weiter. Im Hintergrund des Fragenden befinden sich weitere 10 000 Fragen, von deren Beantwortung er sich erwartet, dass sie seinen Wissensdurst befriedigen, seine Erkenntnisse erweitern werden. Es kann durchaus sein, dass er ein Wohlgefühl nach der Beantwortung seiner Frage hat und sich in seinen Auffassungen bestätigt fühlt, oder er lernt, die Dinge etwas anders zu sehen, was ebenfalls einen beglückenden „Aha“-Effekt auslösen kann. Damit glaubt er sich seinem Ziel einen, wenn auch nur kleinen, Schritt näher. Aber er irrt sich. Es kommt nicht darauf an, ob die Frage in der einen oder in der gegenteiligen Richtung beantwortet wird. Davon hängt für die Situation im Ich überhaupt nichts ab. Der mögliche Erkenntnisgewinn hat überhaupt keine Bedeutung für das Stehen im Ich. Daran ändert sich überhaupt nichts, aber nur darum ginge es.
Der Fragesteller müsste dahin geführt werden zu erkennen, dass das Problem in seiner Art der Fragestellung liegt, denn sie erfolgt immer vom Ich her. Das Problem liegt darin, dass er als Ich diese Frage stellt und glaubt, durch Beantwortung dieser Frage das zu finden, was er sucht: Die Befreiung vom Ich. Und so kann es nicht gelingen.
Dem möchte ich die Frage eines Suchenden gegenüber stellen, die die Ich-Problematik ganz existenziell berührt: „Grundsätzlich steckt der Mensch voller Ängste, am meisten vor sich selbst. Ich fühle mich wie jemand, der eine Bombe mit sich herumträgt, die irgendwann explodieren wird. Er kann sie nicht entschärfen, er kann sie nicht wegwerfen. Er ist zu Tode geängstigt und sucht wie wahnsinnig nach einer Lösung, findet aber keine. Für mich heißt Befreiung, diese Bombe loszuwerden. Ich weiß nicht viel über die Bombe. … Manchmal möchte ich jemanden töten oder mich selbst. Dieses Verlangen ist so stark, dass ich permanent in Angst lebe. Und ich weiß nicht, wie ich mich von dieser Angst befreien kann“ (Nisargadatta, Ich bin I, 127).
Wenn Sie, lieber Leser, keinen großen Unterschied zwischen den ersten und der letzten Frage sehen, dann kann ich nur hoffen, dass Ihnen das im weiteren Verlauf der Lektüre klar wird. Für mich könnte der Unterschied nicht größer sein. Beiden gemeinsam ist nur eines: Beide Aussagen erfolgen von einem Ich her. Aber während bei dem ersten sowohl beim Fragenden als auch beim Antwortenden die Gedanken lediglich intellektuelle Überlegungen darstellen, steht beim zweiten die Existenz auf dem Spiel. Hier ist das Ich bereits an die Grenze der Verzweiflung vorgedrungen, und die Antwort ist für ihn, im Gegensatz zum ersten, von existenzieller Bedeutung.
Dieser Vergleich zeigt besser als jede theoretische Darlegung, worin ich den Unterschied zwischen einer sogenannten Spiritualität sehe und dem, worum es mir geht, nämlich um die Transzendierung des Ichs, die den Menschen in seiner gesamten Existenz erschüttert.
Ich komme inzwischen weitgehend ohne jeden theoretischen Hintergrund aus, ohne: „Du bist der Ursprung der Welt“, „Du bist das Eine“ oder wie immer solche Formulierungen lauten.
Spiritualität in jenem Verständnis ist der Irrtum zu glauben, dass sich die Dinge des Lebens viel leichter werden organisieren lassen, wenn ich erleuchtet bin. Es ist die Hoffnung, ein leichteres Leben zu haben, vor allen Dingen das Leid, das einem aus sich selbst entsteht zu beseitigen. Es wird viel Bemühen hineingesteckt in Meditation und alle anderen Praktiken, um sich über das öde Alltagsleben hinauszuheben.
Das halte ich für ein völliges Missverständnis. Es ist immer das Ich, das unter der Mühsal des Lebens leidet und dem entfliehen zu können glaubt. Dieses Ich ist die Ursache des Übels und nicht die fehlende Erleuchtung, aber das kann von den meisten nicht erkannt werden. Es ist immer ein Ich, das auf Erlösung oder Befreiung hofft, das die Bürde dieses elenden Lebens loswerden möchte, in das es verstrickt ist. Aber es geht überhaupt nicht darum, ein leichteres und angenehmeres Leben zu haben. Das ist der Wunsch eines Ichs. Es geht auch nicht um einen erhebenden Zustand, in dem die Last des Lebens von einem abfällt, so wie es sich viele vom Drogenkonsum erwarten und auch erhalten. Nur braucht man dann ständig die Droge und wird dadurch zunehmend ruiniert, sowohl körperlich, als auch geistig, seelisch und in seinen sozialen Kontakten.
Wer sich auf den Weg der spirituellen Suche begibt in der Hoffnung, das „niedere“ Leben hinter sich zu lassen, wird kein Ziel erreichen. Solange nicht wenigstens intellektuell begriffen wird, dass das Ich-Sein die Ursache aller Misere ist, dreht sich immer alles im Kreis. Er wird von Guru zu Guru wandern, Buch um Buch lesen in der Hoffnung, dass das Entscheidende doch irgendwann passieren müsste. Und immer, wenn er erhebende Erlebnisse hat, wird er glauben, dass er „Es“ nun hat, dass endlich der Schleier gefallen ist, aber kurze Zeit später oder wenn er wieder in seinem Alltagsleben steht, ist alles verflogen und zurück bleibt ein enttäuschter und verwirrter Suchender, der nicht versteht, warum er nicht bleibend verwandelt ist.
Es ist aber auch die Schuld von vielen – nicht allen! – Verfassern spiritueller Literatur, die den Eindruck erwecken, dass es ganz leicht ist, die Erleuchtung zu erlangen, ja dass man immer schon erleuchtet ist und das nur zu erkennen braucht.
Ich möchte das, was im spirituellen Bereich gesagt wird, auf das hin prüfen, was man wirklich sagen kann.
Ich würde durchaus gerne sagen – und man könnte es rechtfertigen, es so zu sagen -, dass ich z. B. ganz eins werde mit dem Willen Gottes, dass Gott und ich eins sind und nicht zwei, dass Gott - oder das Absolute, das universale Selbst, der eine Geist - durch mich sich entfaltet, durch mich seinen Ausdruck findet.
Aber wenn ich es genau prüfe, dann kann ich diese Aussagen nicht machen; es wäre nur ein Nachsagen tradierter Überzeugungen. Es ist nirgends Gott zu sehen, kein Absolutes, kein Geist, nichts. Das einzige, was ich sagen kann, ist: Ich lebe, ich bin einfach, ich schreibe jetzt diesen Text, was mir eigentlich überhaupt nicht schwer fällt, ich denke gar nicht viel dabei, jedenfalls ist es recht mühelos. Wenn meine Frau zum Essen ruft, dann komme ich. Ich erinnere mich, dass es nicht immer so war, gerade was das Zum-Essen-Rufen betrifft. Wenn ich eine „wichtige“ Arbeit hatte und mich meine Frau zum Essen gerufen hat, dann bin ich überhaupt nicht gleich gekommen, habe häufig einen befehlenden Unterton gehört und habe mich dagegen gewehrt, da ich ja auch eine wichtige Arbeit zu verrichten hatte. Das ist jetzt völlig anders: Es gibt keine wichtige Arbeit mehr und keine unwichtige. Ich tue das, was ich tue, weil es im Moment das einzige ist, was ich tun will. Und wenn meine Frau zum Essen ruft, dann ist das Essen fertig und ich begebe mich zu Tisch, eben weil jetzt das Essen fertig ist. Sollte ich gerade einen wichtigen Gedanken haben, dann fällt er mir nachher schon wieder ein, oder er war eben doch nicht so wichtig. Ich kann auch meine Frau fragen, ob ich den Gedanken noch schreiben kann. Was nicht mehr der Fall ist, sind diese Machtspielchen, die sich häufig dahinter verbergen, wodurch das Ich um seine Daseinsberechtigung kämpft. Und damit wird die Beziehung unglaublich entspannt und leicht. Es ist für beide befreiend und beglückend, weil jeder fähig ist – meine Frau schon viel früher als ich – den anderen in seinen Interessen und Bedürfnissen wahrzunehmen.
Das