Spiritualität - ganz ohne Spiritualität. Anton Weiß
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In einem weiteren Punkt sehe ich die über das Ich-Sein hinausdrängende Kraft: in der Tatsache, dass der Mensch nie zufrieden ist.
Der Mensch ist zutiefst unzufrieden; er sehnt sich nach etwas, was es so, auf der horizontalen Ebene nicht gibt; was durch alles Haben an Gütern, durch alles Haben, was durch menschliches Streben erreichbar und machbar ist, nicht erreicht werden kann. Dazu gehören auch Reisen, Wissen, Sex, künstlerisches Schaffen und spirituelles Suchen. Nichts vermag dieses unstillbare Verlangen auszufüllen.
Dass ein Mensch nicht zufrieden ist mit dem Leben, das er führt, dass er immer auf der Suche ist, scheint mir ein entscheidender Unterschied zum Tier zu sein. Ein Tier ist mit dem Leben, in dem es sich befindet, zufrieden. Es verwirklicht sich in dem Maße, in dem es sich in seinen Gegebenheiten vorfindet: Ein Löwe jagt, eine Kuh grast, ein Vogel fliegt durch die Lüfte und ein Fisch schwimmt im Wasser - und sie scheinen in der Erfüllung ihrer Gegebenheiten ein befriedigendes Leben zu führen. Anders der Mensch: Er ist nicht zufrieden mit dem Zustand, in dem er sich vorfindet: Er will den Luftraum erobern, er will die Hintergründe der Welt wissen, er strebt danach, mehr zu werden, als er ist – mehr zu haben, mehr zu sein und auch mehr zu scheinen. Er ist nicht zufrieden mit den Gegebenheiten, in denen er sich vorfindet. Es scheint ein Wesensmerkmal des Menschen zu sein, nicht zufrieden zu sein. Er strebt nach etwas, was er gar nicht benennen kann. Alles Streben nach mehr Wissen, mehr Haben, mehr Sein scheint nur Ausdruck eines Verlangens zu sein, von dem der Mensch letztlich nicht weiß, wonach ihn verlangt.
Denn wenn er erreicht hat, was er erstrebt hat, dann ist er nicht, wie man meinen möchte, zufrieden, sondern kaum ist das Ziel erreicht, drängt es ihn schon wieder nach neuen Zielen, die es zu erreichen gilt. Wir in der westlichen Welt haben es heute zu einem Wohlstand und einem angenehmen Leben gebracht, wie ihn sich frühere Generationen nicht im Traum hätten vorstellen können. Aber hat uns das glücklicher gemacht? Sind wir durch diesen hohen Lebensstandard zufriedene Menschen geworden? Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass das Glück bis zu einer gewissen Grenze mit zunehmendem Einkommen steigt, sich dann aber nicht mehr steigern lässt. Für mich ein deutliches Zeichen, dass der Mensch nach mehr verlangt.
Sehnsucht und Verlangen sind ein Hauptkennzeichen des menschlichen Lebens.
Der Mensch erhofft sich die Erfüllung immer vom nächsten. Er verweilt gar nicht bei einer Sache, sondern richtet seinen Blick und seine Erwartung sofort auf das nächste.
Weil die Sehnsucht unauslöschlich ist! Es ist ein so tiefes Sehnen im Menschen, ein so großes Verlangen nach Erfüllung, dass er jedem glaubt, der ihm diese Erfüllung verspricht, und sei es noch so banal, wie z. B. durch die Werbung.
Viele, die – in der Regel unbewusst - die Hoffnungslosigkeit dieser Sehnsucht nach Erfüllung erahnen, greifen zu Drogen, und zwar im weitesten Sinn. Dazu zähle ich alles, was die Sehnsucht zu betäuben versucht. Das kann im Grunde alles sein, ob Alkohol, Arbeitswut, Kaufrausch, Computerspiele – alles kann dazu verhelfen, sich nicht dem stellen zu müssen, dass man im Grunde ein unerfülltes Leben führt.
Aus dem unendlichen Verlangen nach Erfüllung ergibt sich die Maßlosigkeit. Da das unendliche Verlangen nicht durch eine noch so große Anhäufung von Gütern befriedigt werden kann, wird das Verlangen immer maßloser. Das ist die Gier, die in der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 so offensichtlich geworden ist. Diese Maßlosigkeit zeigt sich genau so im Leerfischen der Meere, im rücksichtslosen Roden der (Regen-) Wälder wie im Konsumrausch der Menschen. Ich wäre nicht verwundert, wenn diese Gier die Menschheit zerstören würde, denn sie braucht rücksichtslos die Ressourcen auf, ohne an die Nachwelt zu denken. Die Verzweiflung darüber, das nicht bekommen zu können, wonach sich der Mensch so sehr sehnt, endet in der Selbstzerstörung. Es sei denn, es geschieht doch noch das im großen Stil, was mit Umkehr gemeint ist (Jesu Aufruf an die Menschen). Ich habe meine Zweifel.
Der Mensch im Ich ist ein Verzweifelter, weil er den Weg nicht finden kann, der ihn aus seiner misslichen Lage befreit. Wie sonst ist es erklärbar, dass Menschen, die alles haben, mürrisch und ständig gereizt durchs Leben gehen und durch jede Kleinigkeit, die nicht nach ihren Vorstellungen läuft, aus dem Gleichgewicht geraten.
Wer da nachdenklich wird und vielleicht schon lange den Verdacht hat, dass die ersehnte Erfüllung so nicht zu finden ist, der wendet seine Suche ins Spirituelle. Nun glaubt er, durch Meditation, Yogaübungen, Tai Chi und vieles andere die Erfüllung zu finden, die durch seine bisherige Lebensführung ausgeblieben ist. Aber auch hier wird er enttäuscht werden, aus dem einfachen Grund, weil er der gleiche Mensch ist. Er ist es, der sich bemüht, der die Übungen macht, der an sich arbeitet, der nach höherer Erkenntnis strebt – aber dieser „er“ ist das Problem.
Zur Entstehung des Ichs
So klar es ist, dass zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr ein Kind die Erfahrung des Ich-Seins macht, so wenig glaube ich, dass es die Folge der Erziehung oder eine „angelernte Theorie“ (Kruse 24) ist.
Dass und warum es zum Ich kommt, halte ich für außerordentlich geheimnisvoll, aber eines glaube ich nicht, dass es in diesem Leben erworben wurde. Da ist die geballte Macht des Ichs viel zu ungeheuerlich, als dass sie durch eine Erwerbung in diesem Leben erklärt werden könnte. Mag sein, dass es bei einem Kind noch nicht so in Erscheinung tritt, weil es eben erst kurz in dieses Erdendasein eingetreten ist, sich sozusagen noch in einer träumenden Unschuld befindet. Aber auch wenn es sich erst im Laufe der ersten Lebensjahre herausbildet, muss eine Basis dafür schon vorhanden sein. Natürlich lernt es dann, in diesem Leben „ich“ zu sagen, aber mit dieser Bezeichnung müsste überhaupt nicht das einhergehen, was sich als getrennte Wesenheit erfährt, und das ist es, was das Ich ausmacht und was die ganze Problematik zur Folge hat.
Ichbewusstsein hängt zwar mit dem Menschsein aufs engste zusammen und ist tief in ihm verankert, aber es ist nicht mit ihm identisch, denn sonst könnte es nicht aufgelöst werden. Wenn das Ich ausgelöscht ist, hört der Mensch deshalb nicht auf zu existieren.
Wenn man die Entstehung des Ichs im Laufe dieses Lebens, also aus den Bedingungen in den ersten Lebensjahren, zu erklären versucht, dann wird das Ich-Problem als psychologisches Problem gesehen, das dann auch in einer Therapie durch Auflösung des Falschen Kerns und des Falschen Selbst (Wolinsky) zu beheben ist. Es ist einfach zu schön, alles, was schief läuft im Leben des Menschen, auf eine „narzisstische Kränkung“, die in den ersten Lebensjahren stattgefunden hat, zurückführen zu können. Da hat man etwas, was man aufarbeiten kann. Es ist so stimmig und so unwiderleglich, dass man diese Theorie so lieb gewinnt, dass man für eine andere Erklärung gar nicht mehr zugänglich ist.
Die Ich-Problematik ist aber kein psychologisches, sondern ein geistiges oder existenzielles Problem. Zwar kann sich die Ich-Problematik sehr wohl mit einer psychologischen Problematik – z. B. Traumata in der Kindheit oder auch in späterem Alter – verbinden. Die Ich-Problematik kann durch eine psychologische Problematik derart überlagert werden und zu einer so unlöslichen Verbindung werden, dass mit der Behebung des psychologischen Problems auch die Ich-Problematik gelöst ist, denn oft gehen therapeutische Behandlungen mit großem Schmerz und tiefen Erschütterungen einher und nur durch Schmerz, Erschütterung und Verzweiflung kann die Ich-Problematik gelöst werden. Andererseits kann aber eine psychologische Problematik gelöst oder kaum vorhanden sein, und dennoch ist die Ich-Problematik unabweislich gegeben. Das war bei mir der Fall.
Dabei muss man über