DIE EISERNE FERSE. Jack London

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DIE EISERNE FERSE - Jack London

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lassen Sie es mich Ihnen erklären. Mit der Einführung der Maschine und des Fabriksystems gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die große Masse der arbeitenden Bevölkerung heimatlos gemacht. Das alte Arbeitssystem war zusammengebrochen. Das arbeitende Volk wurde von seinen Dörfern vertrieben und in Fabrikstädten zusammengepfercht. Mütter und Kinder mussten an den neuen Maschinen arbeiten. Alles Familienleben hörte auf. Die Bedingungen waren furchtbar. Es ist eine blutige Geschichte.«

      »Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bischof Morehouse ihn mit schmerzlicher Miene. »Es war schrecklich. Aber das ist anderthalb Jahrhunderte her.«

      »Und damals, vor anderthalb Jahrhunderten entstand eben das moderne Proletariat«, fuhr Ernst fort. »Und die Kirche kümmerte sich nicht darum. Während die Kapitalisten aus der Nation ein Schlachthaus machten, blieb die Kirche stumm. Sie protestierte damals so wenig, wie sie es heute tut. Wie Austin Lewis (6), wenn er von jener Zeit spricht, sagt, haben die, an welche das Gebot Weidet meine Lämmer ergangen ist, ruhig zugesehen, wie diese Lämmer in die Sklaverei verkauft wurden und sich zu Tode arbeiten mussten (7). Damals war die Kirche stumm, und ehe ich fortfahre, bitte ich Sie, mir zu sagen, ob Sie mir Recht geben oder nicht. War die Kirche damals stumm?«

      Bischof Morehouse zögerte. Wie Dr. Hammerfield war er einen solchen »Zusammenprall«, wie Ernst es nannte, nicht gewohnt.

      »Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist geschrieben«, sagte Ernst schnell. »Wäre die Kirche nicht stumm, würde sie in den Büchern nicht schweigen.«

      »Ich fürchte, die Kirche war stumm«, gestand der Bischof.

      »Und die Kirche ist heute noch stumm.«

      »Da muss ich widersprechen«, sagte der Bischof.

      Ernst machte eine Pause, sah ihn forschend an und nahm dann die Herausforderung an.

      »Also schön«, sagte er. »Lassen Sie uns sehen. In Chicago gibt es Frauen, die die ganze Woche für nur neunzig Cents arbeiten. Hat die Kirche dagegen protestiert?«

      »Das ist mir ganz neu«, lautete die Antwort. »Neunzig Cents die Woche! Das ist ja schrecklich.«

      »Hat die Kirche dagegen protestiert?«, beharrte Ernst.

      »Die Kirche weiß das nicht.« Der Bischof war offenbar in schwerer Bedrängnis.

      »Aber der Kirche ist doch befohlen: Weidet meine Lämmer«, höhnte Ernst. Und im nächsten Augenblick sagte er: »Verzeihen Sie meinen Hohn, Herr Bischof. Aber können Sie sich wundern, wenn wir die Geduld mit Ihnen verlieren? Wann haben Sie je bei Ihren kapitalistischen Verbänden gegen die Verwendung von Kindern zur Arbeit in den Baumwollspinnereien des Südens protestiert (8)? Sechs- und siebenjährige Kinder arbeiten jede Nacht in Zwölfstundenschichten. Sie sehen nie die Sonne. Sie sterben wie die Fliegen. Die Dividenden werden mit ihrem Blute bezahlt. Und aus den Dividenden werden in Neuengland prachtvolle Kirchen gebaut, in denen Ihresgleichen den schlauen, dickbäuchigen Beziehern dieser Dividenden Plattheiten predigen.«

      »Das wusste ich nicht«, murmelte der Bischof leise. Sein Gesicht war bleich, und ihm schien übel zu werden.

      »Dann haben Sie also nicht dagegen protestiert.«

      Der Bischof schüttelte den Kopf.

      »Dann ist die Kirche heute noch so stumm, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert war?«

      Der Bischof schwieg, und Ernst gab dem Gespräch unvermittelt eine andere Wendung. »Sie wissen, dass ein Geistlicher, der protestieren wollte, entlassen würde.«

      »Ich glaube kaum, dass das leicht ist«, lautete die Erwiderung.

      »Wollen Sie protestieren?«, fragte Ernst. »Zeigen Sie mir solche Schäden, wie Sie sie anführen, in unserer eignen Gemeinde, und ich werde protestieren.«

      »Ich werde sie Ihnen zeigen«, sagte Ernst ruhig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich will mit Ihnen eine Wanderung durch die Hölle machen.«

      »Und ich werde protestieren.« Die Glieder des Bischofs strafften sich, und seine feinen Züge nahmen die Härte eines Kriegers an. »Die Kirche soll nicht stumm sein.«

      »Man wird Sie entlassen«, sagte Ernst.

      »Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen«, lautete die Antwort. »Ich werde beweisen, dass die Kirche nur aus Unwissenheit geirrt hat. Und mehr noch, ich bin überzeugt, dass, was auch immer Schreckliches in der Industrie vorkommt, nur durch die Unwissenheit der kapitalistischen Klasse ermöglicht wird. Sobald sie es erfährt, wird sie alles Unrecht gutmachen. Und dass sie es erfährt, soll Sache der Kirche sein.«

      Ernst lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.

      »Vergessen Sie nicht«, sagte ich, »dass Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat Recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«

      »Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick hasste ich ihn.

      »Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«

      »Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.

      »Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.

      Er schüttelte den Kopf.

      »Ich verlange ja nicht, dass Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selbst.«

      »Ich weiß Bescheid«, sagte ich.

      »Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.

      »Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.

      »Es ist mir ganz einerlei...«, begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.

      »Ich glaube, Sie - oder Ihr Vater, was dasselbe ist - haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«

      »Was hat das damit zu tun?«, rief ich.

      »Nicht viel«, begann er langsam. »Nur, dass das Gewand, das Sie tragen, mit Blut befleckt ist. Dass die Nahrung, die Sie essen, blutig ist. Dass das Blut kleiner Kinder und starker Männer von Ihren Dachbalken herabtropft. Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich es immerfort über mir tropfen hören: Tripp, tropp, tripp, tropp.«

      Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, schloss er die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Zorn und verletzter Eitelkeit brach ich in Tränen aus. Nie in meinem Leben war man mir so brutal begegnet. Sowohl der Bischof wie mein Vater waren verlegen und bestürzt. Sie versuchten die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken, aber Ernst öffnete die Augen, ließ sie einen Augenblick auf mir ruhen und wandte sich dann ab. Sein Mund war starr und seine Augen auch, und sie lächelten nicht. Was er mir sagen, welche furchtbare Züchtigung er mir angedeihen lassen wollte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick blieb ein Mann, der auf dem Bürgersteig vorbeiging, stehen und sah zu uns herein. Er war groß, ärmlich gekleidet und trug auf dem Rücken eine schwere Last von Rohr- und Bambusständern, Stühlen und Ofenschirmen. Er sah zum Hause herauf, als sei er unschlüssig, ob er eintreten und versuchen

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