Menschen, Göttern gleich. H. G. Wells
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Читать онлайн книгу Menschen, Göttern gleich - H. G. Wells страница 15
Jede menschliche Gesellschaft habe ihre Grundlage in der Einschränkung der eingewurzelten wilden Streitbarkeit des Urmenschen durch Gesetze, Verbote und Verträge; jener alte Geist der Selbsterhaltung mußte sich nun neuen Einschränkungen fügen, die den neuen Machtmitteln und deren Gefahren entsprachen. Die Idee der Konkurrenz um den Besitz als herrschende Idee der zwischenmenschlichen Beziehungen drohte, wie eine schlecht bewachte Feuerstelle, die Maschine, die sie früher angetrieben hatte, zu zerstören. Die Idee des schaffenden Dienstes sollte jene verdrängen. Wenn das soziale Leben gerettet werden sollte, mußte sich der menschliche Geist dieser Idee zuwenden. Man begann nun Vorschläge, die man in früheren Zeiten für einen begeisterten und überschwenglichen Idealismus gehalten hatte, nicht nur als einfache und nüchterne psychologische Wahrheiten, sondern auch als praktische und dringend notwendige Wahrheiten zu erkennen. Als Urthred dies erklärte, drückte er sich in einer Weise aus, die Mr. Barnstaple an gewisse, ihm sehr vertraute Sätze erinnerte; er schien zu sagen: ›Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, und wer sein Leben hingibt, wird damit die ganze Welt gewinnen.‹
Pater Amerton schien dasselbe zu denken. Denn er unterbrach plötzlich: »Aber was Sie da sagen, ist ja ein Zitat.«
Urthred gab zu, daß er ein Zitat im Sinne hatte, eine Stelle aus den Lehren eines Mannes von großer dichterischer Kraft, der vor langen Zeiten, in den Tagen der gesprochenen Worte, gelebt hatte. Er hätte weiter gesprochen, aber Pater Amerton war zu aufgeregt, es zuzulassen.
»Aber wer war dieser Lehrer?« fragte er. »Wo lebte er? Wie wurde er geboren? Wie starb er?«
Ein Bild blitzte vor Mr. Barnstaples geistigem Auge auf, das Bild einer einsamen, blassen Gestalt, geschlagen und blutend, umgeben von bewaffneten Wächtern, inmitten einer stoßenden, drängenden, hirnverbrannten Menge, die eine schmale, von hohen Mauern umsäumte Gasse füllte. Dahinter tauchte ein riesiger fürchterlicher Gegenstand auf und nieder mit dem Wogen der Menge.
»Starb er auch in dieser Welt am Kreuze?« schrie Pater Amerton. »Starb er am Kreuze?«
Sie erfuhren, daß dieser Prophet in Utopia unter großen Schmerzen gestorben sei, aber nicht am Kreuze. Er war irgendwie gefoltert worden, aber weder die Utopen noch die Erdlinge wußten genug über die Technik der Folter, um sich eine Vorstellung davon machen zu können; dann war er anscheinend an ein sich langsam drehendes Rad gebunden und bis zu seinem Tode zur Schau gestellt worden. Es war die scheußliche Strafe eines grausamen und kriegerischen Volkes, und sie wurde über ihn verhängt, weil seine Lehre vom allgemeinen Dienst die reiche und herrschende Klasse, die nicht diente, in Angst versetzt hatte.
Mr. Barnstaple hatte einen Moment lang eine verkrümmte Gestalt auf dem Rad in der blendenden Sonne vor Augen und – herrlicher Triumph über den Tod – aus einer Welt, die eine solche Tat vollbringen konnte, war dieser große Friede und diese allumfassende Schönheit entstanden!
Aber Pater Amerton drängte mit seinen Fragen.
»Aber habt ihr nicht erkannt, wer das war? Hat es denn eure Welt nicht vermutet?«
»Viele dachten, daß dieser Mann ein Gott sei, aber er nannte sich nur ›Gottessohn‹ oder ›Menschensohn‹.«
Pater Amerton ließ nicht locker. »Betet ihr ihn jetzt an?«
»Wir folgen seiner Lehre, weil sie wundervoll und wahr ist«, sagte Urthred.
»Aber anbeten?«
»Nein.«
»Betet ihn denn niemand an? Gab es auch früher niemanden, der ihn angebetet hat?«
Es gab welche, die ihn anbeteten. Es gab solche, die vor der strengen Großartigkeit seiner Lehre verzagten und doch das quälende Gefühl hatten, daß er im tiefsten Grunde recht habe. So spielten sie ihrem eigenen, beunruhigten Gewissen einen Streich, indem sie ihn als einen zauberkräftigen Gott statt als ein Licht für ihre Seele behandelten. Sie verwoben die alten Traditionen der Hohepriester mit seiner Hinrichtung. Anstatt ihn offen und klar in sich aufzunehmen und ihn zum Teil ihres Verstandes und Willens zu machen, gaben sie vor, ihn auf mystische Weise zu essen und ihn zu einem Teil ihres Körpers zu machen. Sie machten aus seinem Rad ein wundertätiges Symbol und vermischten es mit dem Äquator, der Sonne, der Sonnenbahn, mit allem, was rund war. In Fällen von Unglück, Krankheit oder schlechtem Wetter glaubte man, daß es für den Gläubigen sehr heilsam sei, wenn er mit dem Zeigefinger einen Kreis in der Luft beschreibe.
Und da das Andenken an diesen Lehrer den Unwissenden wegen seiner Milde und Barmherzigkeit sehr teuer war, bemächtigten sich seiner schlaue und aggressive Individuen, die sich selbst zu Vorkämpfern und Vertretern des Rades ernannten, in seinem Namen reich und mächtig wurden, die Völker für seine Sache in große Kriege führten und ihn als Deckmantel und Rechtfertigung für Neid und Haß, Tyrannei und dunkle Begierden benützten. Bis man zuletzt sagte, daß sein eigenes siegreiches Zeichen, das Rad, den alten Propheten von neuem zermalmt und vernichtet hätte, wenn er wieder nach Utopia gekommen wäre …
Pater Amerton schien dieser Mitteilung keine Aufmerksamkeit zu schenken. Er betrachtete diese Sache aus einem anderen Gesichtswinkel.
»Aber es gibt doch sicher noch einen Rest von Gläubigen«, sagte er. »Vielleicht verachtet – aber einen Rest?«
Es gab keinen Rest mehr. Die ganze Welt folgte diesem Lehrer der Lehrer, aber niemand betete ihn an. An manchen alten übriggebliebenen Bauten konnte man noch ein geschnitztes Rad sehen, oft mit den phantastischsten Ausschmückungen. Und in Museen und Sammlungen gab es viele Bilder, Denkmäler, Reliquien und ähnliches.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Pater Amerton, »es ist zu fürchterlich. Ich kenne mich nicht mehr aus. Ich verstehe es nicht.«
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