Die Erdrakete. Johannes Hahn
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Rauszugehen war natürlich kein Allheilmittel gegen Langeweile, das wusste Tina aus Erfahrung. Die Kleinstadt Rotenburg an der Wümme, in der sie wohnte, erschien ihr wie ein in Stein gemeißeltes Monument der Langeweile. Nur die Siedlung aus Einzelhäusern, in der sie mit ihren Eltern wohnte, war vielleicht noch schlimmer. Alle Bewohner hatten offenbar eine tiefe Abneigung gegen alles Ungewohnte und Ungeplante. Gefegte Bürgersteige, akkurat geparkte und geputzte Autos, geschniegelte Häuser und frisch frisierte Hecken und Rasenflächen. Jedes noch so kleine Werkzeug hing in seiner eigens dafür angebrachten Halterung, alles war an seinem Platz und sollte idealerweise auch für immer dort bleiben. Die ganze Siedlung stand kurz vor dem Zustand der absolut endgültigen Ordnung und wahrscheinlich träumten nicht wenige Bewohner davon, sich selbst wegzuräumen, vielleicht in gläsernen Schneewittchensärgen eingesperrt zu sein, damit die geschaffene Ordnung bloß nicht mehr gestört würde.
In Tinas Garten gab es allerdings einen Ort, der allem elterlichen Ordnungswahn zum Trotz immer ein wenig geheimnisvoll geblieben war: Opas Werkstattschuppen.
Opa war schon lange nicht mehr da. Und seinen Werkstattschuppen hatte Papa natürlich längst gründlich ausgemistet. Nur schwere Maschinen wie die Drehbank, die Standbohrmaschine und eine große Werkbank hatte er wohl einfach nicht bewegen können, sonst wären auch sie den Weg gegangen, den die anderen Werkzeuge genommen hatten.
Der Werkstattschuppen war Tinas Lieblingsplatz im Garten. Er war stets unverschlossen, wahrscheinlich weil die Eltern den Schuppen sowieso am liebsten abgerissen hätten, wozu man wahrscheinlich den Sprengmeister aus der Elternschaft ihrer Klasse benötigt hätte. Die Wände des Schuppens waren mit technischen Zeichnungen tapeziert und in der Mitte stand der Aufsitzrasenmäher, mit dem Papa im Sommer jede Woche den Flaum auf dem Rasenteppich im Garten abrasierte.
Hinter dem Schuppen befand sich eine kleine Fläche, die man am ehesten als “verwildert” bezeichnen konnte. Hier standen alte Gartenstühle herum und so manch anderes, was auf Papas nächste Sperrmülltour wartete. Das war natürlich überhaupt nur denkbar, weil man diese Fläche weder vom Haus noch von der Straße aus einsehen konnte. Als Tina sich gerade zwischen zwei Gartenstühlen hindurchzwängen wollte, die sicherlich noch ein paar Jahre gehalten hätten, stolperte sie und stieß sich das Schienbein an einem der Stühle.
Die Entdeckung
Die Entdeckung
Noch auf dem Boden sitzend betrachtete Tina den Gegenstand, über den sie gestolpert war. Das Ding war etwa fingerdick, schien aus Metall zu sein und schimmerte bläulich. Es ragte gerade mal zwei Zentimeter aus dem Boden hervor und ließ sich nicht bewegen, als Tina es anfasste. Mit bloßen Händen begann Tina, die Erde neben dem Gegenstand wegzuscharren, der offensichtlich irgendwo befestigt war.
Schnell merkte Tina, das der geheimnisvolle Gegenstand viel größer war , als sie zunächst geglaubt hatte. Sie nahm eine der Gartenschaufeln, die im Werkstattschuppen brav an ihrer Halterung hing und schon lange auf einen interessanten Einsatz wartete, und buddelte damit weiter. Die Erde schaufelte sie erstmal unter die Hecke. Wenn Papa und Mama das hier sehen würden, gäbe es sowieso Ärger, da musste sie sich keine besondere Mühe geben beim Entsorgen des Erdaushubs.
Tina buddelte an dem freiwerdenden Metallkörper immer weiter entlang. Bald wurde ihr klar, dass es sich um eine runde Form handelte - etwa so dick wie eine Regentonne. Und lang schien das Ganze zu sein. Auf einer Länge von zwei Metern hatte sie nun schon geschaufelt oder zumindest die Erde weggescharrt, um die Abmessungen dieses komischen Gegenstandes zu erahnen. Auf ein Ende war sie noch nicht gestoßen.
Als es dunkel zu werden begann, hängte Tina die Schaufel wieder an ihren Haken und vergewisserte sich noch einmal, dass ihre Ausgrabungsarbeiten und die damit verbundenen Spuren vom Haus aus tatsächlich nicht zu sehen waren. Der Winter ging gerade zu Ende und es war noch immer ein bisschen ungemütlich draußen. Die Gefahr, dass die Eltern in den Garten gingen, war also nicht allzu groß.
“Wie siehst Du denn aus“, rief ihre Mutter noch eine Spur schriller als sonst, als Tina ins Haus kam. Sie blickte verwundert an sich herunter - schließlich hatte sie versucht, möglichst alle Spuren von Sand und Erde von den Klamotten zu entfernen. Die Fingernägel! Jetzt fiel es ihr auch auf. Tiefschwarze Ränder hatte sie unter den Nägeln. Kein Wunder, sie hatte ja anfangs mit bloßen Händen gegraben.
“Oh, die Hände meinst Du. Weißt Du, wir sollen für die Schule verschiedene Bodenproben mitbringen, die werden im Bio-Unterricht untersucht.”
“Aber Kind, für so was muss man doch Handschuhe anziehen! Ich finde es ja schön, wenn ihr in der Schule solche Projekte macht. Aber dieser Schmutz!”
“Ruhig Blut, Mama, so was lässt sich ja abwaschen. Ich mach‘s besonders gründlich, versprochen!”
Beim Abendbrot erzählte Mama, mit was für “Dreckpfoten” Tina nach Hause gekommen sei. Papa fragte natürlich sofort besorgt nach, ob Tina die Erdproben aus dem Garten geholt habe und fürchtete insgeheim um die Unversehrtheit seines Rasenteppichs. “Nein”, sagte Tina und musste genau genommen noch nicht mal lügen, da sie ja schließlich keine Erdproben geholt hatte. Wofür auch, da sie sich das angebliche Bio-Projekt mit den Erdproben ja nur ausgedacht hatte.
Um weiteren Fragen zu entgehen ging Tina zum Angriff über: “Gab es bei Dir auf der Arbeit irgendetwas Besonderes, Papa?” fragte Tina. Papa machte ein langes Gesicht. Immer, wenn Tina so etwas fragte, wurde er etwas ratlos und Mama ging es nicht anders.
Schließlich erzählte Tina von einem anderen, tatsächlich existierenden Schulprojekt. Es war ein Projekt im Fach Gemeinschaftskunde und hieß “Generationen”. Begonnen hatte es damit, dass Carlos´ Großvater gestorben war. Der war immer weit weg auf Kuba gewesen und Carlos hatte ihn nie kennen gelernt. Trotzdem war er tief traurig über den Tod des Großvaters, vor allem wenn er sich vorzustellen versuchte, wie schlimm es für seinen Vater sein musste. Der hatte seinen Papa schließlich viele Jahre schon nicht mehr gesehen und hatte sich nicht von ihm verabschieden können.
Im Projekt “Generationen” trugen nun alle aus der Klasse ihre Geschichten über oder von ihren Großeltern zusammen. Manche hatten schon keine mehr, einer wohnte sogar bei seiner Oma und viele konnten Geschichten erzählen, die sie oft von den Großeltern gehört hatten.
Tina kannte die Eltern ihrer Mutter, die aber weit weg wohnten und die sie nur einmal im Jahr kurz besuchten. Über die Eltern ihres Vaters wusste sie so gut wie nichts und das wunderte sie, da sie schließlich in dem Haus zu leben schienen, in dem noch immer Spuren ihres Opas zu entdecken waren.
“Was ist eigentlich mit Opa?“, fragte Tina.
“Opa und Oma sind in Sonthofen und wir besuchen sie wieder im August“, sagte Mama, “so wie immer mein Schatz.”
“Nein“, sagte Tina, “ich meine den anderen Opa. Von Papa. Der, der mal hier gewohnt hat. Von dem der Schuppen da draußen ist.”
“Wie, was soll mit Opa sein?”, fragte Papa etwas irritiert zurück.
“Naja, wann ist er gestorben und was hat er eigentlich so gemacht. Und was ist mit Oma? Von der weiß ich irgendwie gar nichts. Du musst doch eine Mutter gehabt haben. Ohne geht‘s ja wohl schlecht, oder?”
Unter Papas Hemdkragen krochen langsam diese roten Flecken den Hals empor. Das typische Zeichen für Aufregung - ein bei ihm höchst unerwünschter Zustand.
“Oma ist verschollen und Opa ist