Die Erdrakete. Johannes Hahn
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“Nein!”, sagte Carlos. “Es ist nur, also ich meine wir wissen ja gar nicht was das ist. War das nicht dumm von Dir, so gar nicht in Deckung zu gehen? Ich muss immer noch daran denken, was mein Papa gesagt hat mit Torpedo und so. Könnte doch auch ne Bombe sein!”
“Jaja”, sagte Tina, “Du hast schon recht, es hätte auch schlimm enden können. Aber nun kuck doch mal, dann siehst Du, dass es keine Bombe sein kann. Da ist ein Sitz drin.”
Nun trat Carlos näher und blickte auch in die Maschine. Auch er sah einen kleinen Sitz, ein paar Knöpfe und Anzeigen. Es sah aus wie das Cockpit eines der alten, kleinen Flugzeuge, die er mal im Technischen Museum gesehen hatte. Eng, und nur mit den allernotwendigsten Geräten ausgestattet.
Vielleicht war es ja eine Rakete, ein altes Flugzeug-Cockpit oder der Führerstand irgendeiner anderen, sich bewegenden Maschine, von dem aus Dinge gesteuert oder überwacht wurden. Das war alles denkbar. Carlos aber war sich sicher: “Das ist eine Rakete! Kann gar nichts anderes sein.“
Rätselhaft war nur, dass die Knöpfe und Anzeigen alle erleuchtet waren, dass sich die Luke auf Knopfdruck öffnete. Was auch immer es für eine Maschine war, sie schien betriebsbereit zu sein.
“Tina, Carlos!” tönte die Stimme von Tinas Mutter durch den Garten. Tina und Carlos sahen sich erschreckt an. “Geh vor“, sagte Carlos und versuchte hastig, die Luke wieder zu verschließen. Tina klopfe sich etwas Erde von den Klamotten und rannte hinter dem Werkstattschuppen hervor. Sie ging in Richtung Terrasse, wo Mama stand.
“Na, spielt ihr schön?”, fragte Mama. Und ohne auf eine Antwort zu warten fuhr sie fort: “Ich habe Euch etwas trinken gebracht. Mein Gott, wie siehst Du denn schon wieder aus! Deine Hose!”
Nun kam auch Carlos dazu, zwinkerte Tina zu und sagte “Hallo Frau Greese.”
“Na immerhin, Du siehst auch nicht besser aus“, sagte Tinas Mutter und deutete auf die schwarzen Erdflecken auf Carlos´ Hose.
“Ja, Frau Greese, Kinder brauchen das. Dreck härtet ab, so von wegen Immunsystem und so. Das muss so sein.”
“Aber Dreck muss auch weg“, sagte nun Tinas Vater, der auch auf die Terrasse gekommen war. Mit einem säuerlichen Blick zu seiner Frau sagte er: “Meine Sperrmülltour musste heute ja ausfallen und da sollte ich wenigstens mal den Müll hinter dem Werkstattschuppen hervorholen.”
Tina und Carlos blickten sich entsetzt an und Tina stammelte: “Papa, ähhh…, Du kannst den Krempel doch nicht im Vorgarten lagern bis zum nächsten Wochenende, was sollen denn da die Nachbarn von uns denken! Und außerdem muss ich noch eine Strafarbeit machen, da brauche ich unbedingt deine Hilfe!”
“Strafarbeit?” Das ließ Papa zunächst mal alles andere vergessen. “Dann essen wir gleich erstmal und dann kümmern wir uns um deine Strafarbeit. Carlos, Du musst dann leider erstmal gehen. Schule geht vor, in diesem Fall auch am Wochenende!”
Tina brachte Carlos noch zur Gartentür und er flüsterte ihr zu: “Die Luke lässt sich nicht einfach so zudrücken. Man muss wieder auf diese Stelle drücken, diesen Knopf oder was immer das ist. Dann verschließt sich die Luke von alleine.”
“Alles klar“, sagte Tina. “Ich hoffe nur, dass mein Papa nicht in den Garten geht. Aber die Strafarbeit von Dr. Spaßfrei ist heftig genug, die wird uns schon eine ganze Weile beschäftigen. Machs gut Carlos!”
Nach dem Essen fragte Papa erstmal gründlich nach, wie Tina zu der Strafarbeit gekommen war. Er stöhnte leise auf, als das Thema “Grundlagen des Koordinatensystems der Erde” hörte. “Das kann dauern“, sagte er und holte ein Lexikon, einen Atlas und ein Geographiebuch aus dem Regal.
Den ganzen Nachmittag verbrachten Tina und ihr Papa damit, das Koordinatensystem zu verstehen und ihr frisches Wissen in verständliche Wörter zu verpacken und aufzuschreiben.
Tina hatte schon kapiert, dass man für dieses System die Erdkugel sozusagen mit einem Netz aus gedachten Linien überzogen hatte. Auf dem Globus waren diese Linien sogar aufgezeichnet worden. Von oben nach unten zogen sich diese Striche, vom Nordpol zum Südpol, so als würde man eine Wassermelone rundherum in viele kleine Teile schneiden. Das waren die Längengrade. Die Längengrade waren durchnummeriert wie die Gradeinteilung auf Tinas Winkelmesser aus dem Geometrie-Unterricht. Man hatte sich irgendwann darauf geeinigt, dass man in London, an der Sternwarte im Stadtteil Greenwich zu zählen beginnt.
Alles, was in östlicher Richtung von diesem Ort liegt, lässt sich also mit Soundso viel Grad östlicher Länge beschreiben. Die Stadt Hamburg beispielsweise liegt genau 10 Grad östlich von Greenwich, schrieb Tina in ihren Aufsatz. Allerdings liegt auch Tunis, die Hauptstadt Tunesiens in Nordafrika, genau auf diesem Längengrad. Man braucht also noch eine Angabe darüber, wo auf diesem Längengrad sich ein Punkt auf der Erdkugel befindet.
Diese Aufgabe übernehmen die Breitengrade. Sie schlingen sich wie Ringe um den Globus: oben kleinere Ringe, die zur Mitte hin natürlich immer größer werden müssen. In der Mitte ist der größte Ring, der Äquator genannt wird. Dort beginnt in diesem Fall die Zählung, der Äquator ist also der Breitengrad Null. Alles, was darüber liegt, wird in Grad nördlicher Breite angegeben.
Tina versuchte, für ihre beiden Beispiele auf dem 10. Östlichen Längengrad auch den Breitengrad auf dem Globus abzulesen: Tunis lag etwa auf 36 Grad nördlicher Breite und Hamburg, deutlich weiter vom Äquator entfernt, befand sich auf dem 53. Nördlichen Breitengrad.
Tina schwitze und ihre Finger schmerzten vom Schreiben. Auch ihr Papa war vom konzentrierten Arbeiten völlig erledigt und dachte bestimmt nicht mehr daran, dass er noch hinter dem Werkstattschuppen aufräumen wollte. Er drehte gedankenverloren am Globus und sagte: “Guck mal, Sonthofen, bei Oma und Opa, das liegt auch genau auf dem 10. östlichen Längengrad, aber auf dem 47. Nördlichen Breitengrad.”
“Aber Sonthofen liegt doch viel höher. Hamburg oder Tunis liegen ja eher so auf Meereshöhe und in Sonthofen ist es bergig. Das weiß dieses Koordinatensystem doch gar nicht, wie hoch ein Punkt ist, oder?”
“Ach Tina, das weiß ich nun wirklich nicht”, stöhnte Papa, der nun deutlich keine Lust auf weitere Beschäftigung mit dem Thema hatte. “Frag das doch deinen Lehrer, der soll auch mal was tun für sein Geld.”
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