Das Klingeln des Telefons am Abend. Erhard Schümmelfeder

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Das Klingeln des Telefons am Abend - Erhard Schümmelfeder

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war es?“

      „Seinen Namen habe ich schon wieder vergessen.“

      „Was wollte er denn von mir?“

      „Es geht um Musik.“

      „Das konnte nur Leader sein“, überlegte Martin.

      „Nein“, widersprach seine Mutter näherkommend. „Es war nicht Leader. Auch kein anderes Bandmitglied. Es war ein Junge, der bei dir Gitarrenunterricht nehmen möchte.“

      „O Gott“, entfuhr es ihm. „Dann war es Nigel. Wenn er noch einmal anruft, kannst du ihn abwimmeln.“

      „Warum sollte ich den netten Jungen abwimmeln?“

      „Weil er keinen Funken Talent besitzt, deshalb.“

      „Werde nicht herzlos“, sagte seine Mutter.

      „Ich bin nicht herzlos“, erklärte er. „Es ist die reine Wahrheit.“

      „Wenn es sich so verhält, wird dieser Nigel lernen, die Wahrheit zu ertragen. Du solltest es ihm schonend beibringen.“

      „Mache ich“, meinte er seufzend.

      „Wann?“, forschte seine Mutter.

      „Bei nächster Gelegenheit.“

      „Wie es aussieht“, fuhr seine Mutter nach einem Moment fort, „hast du innerhalb der nächsten Minute Gelegenheit, deinen Vorsatz in die Tat umzusetzen.“

      „Wie meinst du das?“

      „Soeben kommt ein Junge mit einer ziemlich alten Holzgitarre durch unsere Einfahrt.“

      Nein, dachte er nur. Er erhob sich betont gelassen aus dem Sessel, ging durch den Flur, öffnete die Kellertür und eilte die Treppe hinunter zum Hinterausgang. An der Haustür klingelte es. Das Sonnenlicht blendete ihn, als er ins Freie trat. Bevor er die Eisentür hinter sich schloss, hörte er, wie seine Mutter nach ihm rief.. Ein Satzfetzen drang an sein Ohr: „... eben war er noch hier.“

      F

      Als Martin die Eggebrecht-Straße erreichte, befiel ihn jene merkwürdige Herzklopfenunsicherheit, die er vor Isabell nie zugeben würde. Er wechselte von der Schattenseite der Straße auf die von der Morgensonne beschienene rechte Seite und sah flüchtig die sich entfernende Gestalt am Fenster des Hauses Nummer 12. Die leicht nachschwingende Gardine. Also war Isabell zu Hause. Durch das schmiedeeiserne Vorgartentor ging er geradewegs zur Eingangstür und drückte auf den runden Messingknopf. I-sa-bell! sang die Klingel in der Diele des Hauses, von wo sich nun das Heulen eines Staubsaugers mit den Klängen rhythmischer Musik vermischte. Hausputz, dachte er. Möglichst gelassen wollte er erscheinen. Unauffällig prüfte er sein Gesicht in der Fensterscheibe über dem Postkasten. Eine Spur von Ernst schien seinen Blick zu prägen. Nein, er wollte nichts preisgeben von seinen Gefühlen, den schwelenden Ahnungen und unvermeidlichen Fragen, die nach einer eindeutigen Antwort drängten. Was will ich eigentlich, ging es ihm durch den Sinn. Klarheit, dachte er. Von irgendwo im Haus hörte er Schritte. Im Hintergrund fiel eine Tür ins Schloss, während die Haustür sich öffnete.

      „Hi.“ Tina, Isabells Schwester, lächelte ihn vergnügt an und musterte ihn mit interessiertem Wohlwollen.

      „Hi“, sagte er. „Störe ich bei der Hausarbeit?“

      „Nein“, antwortete sie. „Aber du darfst dich gern beteiligen. Wie man einen Staubsauger bedient, weißt du ja.“

      „Eigentlich möchte ich zu Isabell“, brachte er sein Anliegen hervor.

      „Drückeberger“, tadelte Tina ihn stirnrunzelnd. Dann fiel ihr ein: „Du hast eine schöne Handschrift.“ Sie tippte mit ihren rot lackierten Fingernägeln auf den Deckel des blechernen Postkastens neben der Tür.

      Tina trug ihre knapp geschnittenen Shorts, die ihre nackten Schenkel plakativ zur Geltung brachten. So ist Tina, dachte er. Der demonstrative Typ. „Ach“, sagte er schließlich, „dann hast du also meine zwanzig Karten an Isabell gelesen?“

      „Es waren fünf“, belehrte sie ihn. „Außerdem unterliegen Postkarten nicht dem Paragraph 10 des Grundgesetzes.“

      „Paragraph 10?“

      „Briefgeheimnis“, klärte sie ihn auf.

      „Wie schön für dich“, meinte er. „Dann brauchst du dich nicht mit Gewissensbissen zu quälen.“

      „Mach dir nur keine Sorgen um mein Gewissen“, meinte Tina und umschlang das Türblatt mit beiden Armen, wobei ihre Finger sich auf der oberen Kante berührten. Die Art, wie sie ihre Brüste und das Becken gegen die Tür presste, hatte etwas Anzügliches, das er nur aus billigen amerikanischen Filmen über das Rotlichtmilieu kannte. Es war bezeichnend für Tina: Jede Begegnung mit anderen Leuten war für sie ein Auftritt, bei dem sie sich in Szene setzen und produzieren konnte.

      „Ist Isabell in ihrem Zimmer?“, fragte er sie.

      „Ja. Aber vergiss nicht zu klopfen. Sie hat sich eben erst bei mir beschwert, weil ich es vergessen hatte.“ Sie ließ ihn in den Flur eintreten und schloss die Haustür.

      „Hat Isabell noch Urlaub?“, erkundigte er sich auf dem Weg durch den Gang zum Zimmer.

      „Heute ist ihr letzter Tag. Morgen muss sie wieder in die Praxis“, hörte er Tina sagen, bevor sie mit der linken Schuhspitze den Schalter des fahrbaren Staubsaugers berührte und der aufbrausende Motor mit seinem Lärm das Gespräch beendete.

      Er klopfte zweimal gegen die weißgestrichene Tür von Isabells Zimmer und lauschte nach ihrer Stimme. Da er keine Antwort erhielt, drückte er den Griff hinunter und trat in den Raum hinein. Durch das offene Fenster drang ein leichter Heuduft von den umliegenden Wiesen herein. Isabells Decke lag sauber gefaltet auf dem Bett. Neben dem himmelblauen Kissen starrte ihr Kuschelbär mit weit geöffneten Augen zur Decke. Martin sah sich im Zimmer um. Wo war Isabell? Neben der Lampe auf dem Nachttischchen lag ein Buch mit einer Feder als Lesezeichen zwischen den Seiten: Der Fänger im Roggen.

      Warum versteckte sie sich vor ihm? - Ich will Klarheit, dachte er. Im Flur schaltete Tina den Staubsauger aus. Die Musik aus dem Radiolautsprecher in der Küche wurde leiser gestellt. Martin steckte beide Hände in die Taschen seiner Hose und ging langsam zum Fenster. Er betrachtete Isabells Malutensilien auf der Fensterbank: Pinsel in einem Wasserglas, Bleistifte, einen Anspitzer, Farbtiegel auf dem Skizzenblock. Er bog das oberste Deckblatt ein Stück zurück, um die letzte Zeichnung anzusehen: Die Seite war leer. Hatte sie in den letzten zwei Wochen keinen Strich zu Papier gebracht? Es war ihre Sache und ging ihn nichts an. Auf dem Schreibtisch entdeckte er zwei geöffnete Briefumschläge, aus denen die gefalteten Blätter schräg herausragten. Auch ihre Briefe gingen ihn nichts an. Dennoch konnte er nicht widerstehen, einen Blick auf die Absender zu werfen: Djaymila - eine Brieffreundin aus Köln; Susanne - Isabells Cousine, die mit ihren Eltern nach München gezogen war. Auf der Schreibtischunterlage, die aus einem großflächigen Papierblock bestand, hatte Isabell einige Bleistifte mit unterschiedlichen Härtegraden ausprobiert: Kreise, Striche, graue Flächen. Mit einem blauen Kugelschreiber waren flüchtige Notizen auf das rosafarbene Papier gebannt worden: Namen, die er noch nie gelesen hatte, Titel von Büchern oder Musikstücken, Telefonnummern, die er nicht einordnen konnte. Eigenleben, dachte er, sie führt ein

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